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#67 Leben wir in einer postmodernen Gesellschaft?

June 01, 2016
F

In Ihrem Christianity Today-Artikel haben Sie geschrieben:

Wie dem auch sei – manche sind vielleicht der Meinung, dass das Wiederaufleben der Natürlichen Theologie in unserer Zeit einfach nur vertane Arbeit ist. Schließlich leben wir doch in einer postmodernen Kultur, in der Berufungen auf derlei apologetische Argumente nicht mehr wirken, oder nicht? Rationale Argumente für die Wahrheit des Theismus ziehen angeblich nicht mehr. Manche Christen raten deshalb dazu, dass wir einfach unsere Geschichte weitergeben und die Menschen einladen sollten, darin mitzuwirken.

Diese Denkweise macht sich einer desaströsen Fehldiagnose der modernen Kultur schuldig.

Die Vorstellung, dass wir in einer postmodernen Kultur leben, ist ein Mythos. Ja, eine postmoderne Kultur ist ein Ding der Unmöglichkeit; sie wäre gänzlich „unlebbar“. Die Menschen sind nicht relativistisch, wenn es um Themen aus der Naturwissenschaft und der Technik geht. Sie sind relativistisch und pluralistisch, wenn es um religiöse und ethische Themen geht. Doch das ist freilich kein Postmodernismus, sondern Modernismus! Das ist einfach der traditionelle Verifikationismus, nach dem alles, was man nicht mit den fünf Sinnen beweisen kann, eine Sache des persönlichen Geschmacks ist. Wir leben in einer Kultur, die tief modernistisch bleibt.

Ich habe einen Freund gebeten, etwas dazu zu sagen, und er meinte: „Ich denke, wir müssen einen Teil von Craigs Hypothese hier annehmen und einen Teil ablehnen. Wir leben definitiv in einer Kultur, in der der Relativismus angenommen wird und absolute Werte ernsthaft in Frage gestellt werden, doch nur weil wir in einer eher modernistischen als in einer buchstäblich postmodernistischen Kultur leben, heißt das nicht, dass der Postmodernismus in unserer Kultur, wie sie heute definiert wird, nicht so vorhanden wäre.

Craig stellt hier klar, dass wir nur innerhalb bestimmter Sphären unseres Lebens mit postmoderner Einstellung handeln, auch wenn die Leute eine solche für sich beanspruchen. Ich stimme Craig hierin zu: Zwar ist der Großteil des postmodernen Einflusses auf die (tatsächlich oder wahrgenommen) relativistischeren Bereiche der Kultur (Religion, Kunst, Musik, Ethik, Filme usw.) zu beobachten, doch leben wir in einer Welt , die von einer Tendenz gekennzeichnet ist, in der Geschichte keinen großen Erzählstrang (eine Meta-Erzählung) zu sehen, in dem es einen logischen und realistischen Zusammenhang von Anfang bis Ende gibt. Vielmehr wurde dies ebenfalls relativiert, und so werden viele rationale Argumente, die noch immer gültig sind, beiseitegeworfen, weil sie (zu Recht) eine wahre Meta-Erzählung für das Leben implizieren.“

Ich denke, er hat Recht. Sie auch?

John

United States

Prof. Craigs Antwort


A

Nein, John, ich nicht. Ich bin überzeugt, dass die westliche Kultur, als Stiefkind der Aufklärung, im Kern tief modernistisch bleibt und daher auch so behandelt werden muss. Das heißt natürlich nicht, dass es keine mächtigen Strömungen des Postmodernismus in unserer Kultur gäbe. In der Universitätssubkultur ist der Postmodernismus fest verwurzelt, z. B. in den Fakultäten für Literatur, Frauenforschung und vor allem Religion. Doch gemessen an unserer Kultur im Allgemeinen sind diese radikalen Inseln eher die Ausnahme – ja, selbst innerhalb der Universität als Ganze stellen sie eine Minderheit dar. Ich bin stolz darauf, dass mein Fach, die Philosophie, dem Vordringen des Postmodernismus tapfer widerstanden hat.

Die meisten Leute vertreten nicht eine Sekunde lang die Meinung, dass es keine objektiven Normen der Wahrheit, Rationalität und Logik gibt. Wie ich in dem Artikel auch geschrieben habe: Eine postmoderne Kultur ist ein Ding der Unmöglichkeit; sie wäre völlig „unlebbar“. Niemand ist Postmodernist, wenn es um das Etikett eines Medikamentenfläschchens gegenüber einer Packung Rattengift geht. (Wenn Sie Kopfweh haben, wären Sie gut beraten, zu glauben, dass Texte eine objektive Bedeutung haben!) Ich fürchte, die Vorstellung, dass wir in einer postmodernen Kultur leben, ist ein Mythos, der in unseren Kirchen und Gemeinden von fehlgeleiteten Jugendleitern aufrechterhalten wird.

Ihr Freund scheint der Meinung zu sein, dass die Menschen ihr Leben in den meisten Sphären zwar als Modernisten leben, wir aber dennoch den Einfluss des Postmodernismus „auf die (tatsächlich oder wahrgenommen) relativistischeren Bereiche der Kultur (Religion, Kunst, Musik, Ethik, Filme usw.)“ erkennen. Meine Behauptung allerdings lautet, dass der Relativismus in diesen Kulturbereichen ein Ausdruck gerade des Modernismus ist. Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde von einer Bedeutungsphilosophie dominiert, die man Verifikationismus nennt. Gemäß dieser Ansicht ist alles, was im Prinzip nicht durch die fünf Sinne, also die Naturwissenschaft, überprüft werden kann, ohne Bedeutung. Da religiöse und ethische Aussagen so nicht überprüft werden können, folgt daraus, dass sie überhaupt keinen faktischen Inhalt haben. Sie sind lediglich Ausdrücke des persönlichen Geschmacks und der Emotionen.

Das einflussreiche Buch Sprache, Wahrheit und Logik [1] des britischen Philosopphen A. J. Ayer diente als eine Art Manifest dieser Bewegung. Ayer äußerte sich sehr klar zu den theologischen Implikationen seines Verifikationismus. Wenn man mit dem Wort „Gott“ ein transzendentes Wesen meint, so Ayer, dann ist das Wort „Gott“ ein metaphysischer Begriff, und somit „kann es noch nicht einmal wahrscheinlich sein, dass ein Gott existiert.“ Er erklärt: „Die Aussage "Gott existiert" ist eine metaphysische Äußerung, die weder wahr noch falsch sein kann. Und nach demselben Kriterium kann kein Satz, der vorgibt, das Wesen eines transzendenten Gottes zu beschreiben, eine wörtliche Bedeutung besitzen.“

Ich hoffe, Sie begreifen, was diese Ansicht bedeutet. Denn demnach haben Aussagen über Gott nicht einmal die Würde, falsch zu sein. Es sind einfach nur bedeutungslose Worte oder Geräusche, die in die Luft gesprochen werden. Wenn Sie zu jemandem sagen: „Gott liebt Sie und hat einen wunderbaren Plan für Ihr Leben“, dann haben Sie nicht mehr gesagt als: „Es brillig war, und die schlichten Toven wirrten und wimmelten in Waben.“

Und Ayer sah nicht nur theologische Ausagen als bedeutungslos an. Ethische Aussagen – Aussagen über Richtig und Falsch, Gut und Böse – wurden ebenso für bedeutungslos erklärt. Solche Aussagen seien schlichtweg emotionale Ausdrücke der Gefühle desjenigen, der sie tätigt. Ayer schreibt: „Wenn ich sage, "Geld zu stehlen, ist falsch", produziere ich eine Aussage, die keine faktische Bedeutung hat. . . . Ich hätte genauso gut schreiben können: "Geld zu stehlen!!" . . . Es ist klar, dass hier nichts gesagt wird, was wahr oder falsch sein kann.“ So schließt er daraus, dass Werturteile „überhaupt keine objektive Gültigkeit haben“. Dasselbe gelte für ästhetische Aussagen über Schönheit und Hässlichkeit. Laut Ayer werden „solche ästhetischen Wörter wie "wunderschön" und "scheußlich" nicht dazu gebraucht. . . Aussagen über Fakten zu tätigen, sondern einfach um bestimmte Gefühle zum Ausdruck zu bringen. . . .“

Können Sie sich nun in etwa ausmalen, welche Folgen eine solche Philosophie für die Religion, Kunst und Ethik hätte? Sie würde das relativistische und anarchische Chaos produzieren, das die westliche Kultur heute beschwert. Kruzifixe in Urin werden zu Kunstobjekten, und der sexuellen Libertinage wird freien Lauf gelassen. Da religiöse Aussagen keine faktischen Aussagen sind, ist es absolut angemessen, wenn der Nichtgläubige mit diesen Worten auf das Evangelium reagiert: „Das ist vielleicht für Sie wahr, aber nicht für mich.“ Eine solche Reaktion wäre verrückt, wenn es um die Ingenieurskunst beim Bau einer Brücke – oder auch nur eines Haartrockners – ginge. Doch wenn es darum geht, den persönlichen Geschmack auszudrücken, ist sie vollkommen sinnvoll. Christen (oder Moslems), die behaupten, dass ihre religiöse Anschauung die objektive Wahrheit ist und dass diejenigen, die dem widersprechen, falsch liegen, werden als engstirnig, dogmatisch und verbohrt abgestempelt und in dieselbe Schublade gesteckt wie jemand, der behauptet: „Vanille schmeckt besser als Schokolade, und wer anderer Meinung ist, irrt sich.“ Als subjektiver Ausdruck persönlichen Geschmacks hat eine solche Beurteilung keine objektive Wahrheit, und wer denkt, dass sie die doch hat, geht fehl.

Ich behaupte also, dass es eben gerade der Modernismus ist, der den Relativismus und den Pluralismus in den Kulturbereichen ausgelöst hat, die ihr Freund erwähnt hat.

Doch was ist mit seiner Aussage, dass „wir in einer Welt leben, die von einer Tendenz gekennzeichnet ist, in der Geschichte keinen großen Erzählstrang (eine Meta-Erzählung) zu sehen, in dem es einen logischen und realistischen Zusammenhang von Anfang bis Ende gibt“? Ist das ein Produkt des Postmodernismus? Überhaupt nicht. Auch das ist das direkte Ergebnis einer modernistischen Sichtweise, die den Menschen und das Universum als das ungeplante Nebenprodukt der blinden Kräfte des Zufalls und der Notwendigkeit darstellt. Achten Sie auf die ergreifenden Worte von Bertrand Russel aus dem Jahr 1903:

. . . noch zweckloser, noch sinnleerer ist die Welt, die die Naturwissenschaft für unseren Glauben bietet. Inmitten einer solchen Welt, wenn überhaupt, müssen unsere Ideale fortan heimisch werden. Dass der Mensch ein Ergebnis von Ursachen ist, die den Zweck, den sie erzielen würden, nicht vorhersehen konnten; dass sein Ursprung, sein Werden, seine Hoffnungen und Ängste, sein Lieben und sein Glauben nichts anderes sind als das Ergebnis einer zufälligen Anordnung von Atomen; dass keine Leidenschaft und kein Heldentum, keine Intensität des Denkens und Fühlens das individuelle Leben vor dem Grab bewahren kann; dass all die Bemühungen von Äonen, all die Hingabe, all die Inspiration, alle Mittagshelle des menschlichen Genius dem Untergang im Tod des Sonnensystems geweiht sind; und dass der ganze Tempel menschlicher Errungenschaften unvermeidlich in den Ruinen und Trümmern des Universums begraben werden soll - all diese Dinge sind zwar nicht gänzlich unumstritten, doch so annähernd gewiss, dass keine Philosophie, die sie verwirft, auf Bestand hoffen darf. Nur innerhalb des Gerüsts solcher Wahrheiten, nur auf dem festen Fundament unnachgiebiger Verzweiflung kann die Wohnstätte der Seele künftig sicher errichtet werden. („Was der freie Mensch verehrt“)

Es war der wissenschaftliche Naturalismus, der des modernen Menschen Hoffnung auf Sinn und Bedeutung zerstörte. Die Verzweiflung der westlichen Kultur entspringt dem wissenschaftlichen Naturalisums, der ihre Sicht darauf formt, wie die Welt wirklich ist.

All dies ist wichtig, weil eine wirksame Replik auf unsere Kultur eine zutreffende Diagnose dieser Kultur erfordert. Wenn es nach manchen Christen ginge, sollten wir – da wir ja in einer postmodernen Kultur leben – jeden Versuch unterlassen, unseren Glauben rational als die Wahrheit über die Realität zu empfehlen. Stattdessen geben wir einfach unsere Geschichte weiter und laden die Leute ein, miteinzusteigen. Wenn ich Recht habe, kommt das aber dem Selbstmord gleich. Es wird jedes Empfinden dafür, dass die Gemeinde den Anspruch erhebt, die Wahrheit über den Zustand der Welt zu wissen, zerstören – die Wahrheit bietet uns ja der naturwissenschaftliche Naturalismus –, und das Christentum wird als bloße Mythologie angesehen.

Mein Kollege J. P. Moreland hat vor der vor uns liegenden Gefahr gewarnt:

[So] eine Kirche . . . wird . . . ohnmächtig im Widerstand gegen die mächtigen Gewalten des Säkularismus, die christlichen Vorstellungen unter einer Fassade des seelenlosen Pluralismus und fehlgeleiteten Szientismus zu begraben drohen. In einem solchen Kontext wird die Kirche versucht, ihren Erfolg vor allem in Zahlen zu messen – Zahlen, die durch die kulturelle Anpassung an leere Ichs erreicht werden. Dadurch . . . schaufelt sich die Kirche ihr eigenes Grab; ihr Mittel für den kurzfristigen „Erfolg“ wird am Ende genau das sein, was sie langfristig marginalisiert." (Nach: Love your God with All Your Mind, S. 93-94).

„Hier ist der Verstand nötig, der Weisheit hat“ (Off 17,9).

(Übers.: J. Booker)

Link to the original article in English: http://www.reasonablefaith.org/do-we-live-in-a-post-modern-society

  • [1]

    Die deutschen Auszüge dieses Werks in diesem Artikel sind Ad-hoc-Übersetzungen – Anm. d. Übers.

- William Lane Craig