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#76 Auch Pastoren brauchen Apologetik

June 01, 2016
F

Sehr geehrter Herr Prof. Craig,

Ich habe meinen Pastor gefragt, ob man Ihr Argument der Existenz objektiver moralischer Werte im Gespräch mit Atheisten als Beleg für die Existenz Gottes verwenden kann. Das Argument lautete ja:

1. Wenn Gott existiert, existieren auch objektive moralische Werte.

2. Objektive moralische Werte existieren.

3. Also existiert Gott.

Mein Pastor meinte, dass die Schlussfolgerung keine logische Folge aus den Prämissen ist und wir das Argument überhaupt nicht verwenden können. Er war nicht mit Prämisse 2 einverstanden, derzufolge objektive moralische Werte existieren. Er meinte dazu: Zwar glauben wir, dass sie existieren, doch können wir erst dann sagen, dass sie existieren, wenn wir wissen, dass Gott existiert. Er sagte außerdem, dass wir (vermutlich von unseren sozialen Werten her) versucht sind, zu sagen, dass objektive moralische Werte existieren, wir das aber nicht wissen können, bis wir an einen transzendenten Gott glauben, in dem wir die Werte gründen können. Ich nehme an, das Argument würde dann so lauten:

1' Wenn Gott nicht existiert, existieren auch keine moralischen Werte.

2' Gott existiert.

3' Also existieren objektive moralische Werte.

Das wirft jedoch dieselbe Frage auf: Wie wissen wir, dass die zweite Prämisse (in beiden Argumenten) wahr ist?

Wie könnte ich ihm zeigen, dass objektive moralische Werte sehr wohl existieren? Kann man deren Existenz sonst noch bestätigen, außer anhand der Tatsache, dass wir ein Reich objektiver Moral wahrnehmen? Könnten Prämisse 2 und 3 nicht einfach zirkulär sein?

Machen Sie weiter so!

Herzlichst verbunden in Christus,

Rohit

United States

Prof. Craigs Antwort


A

Ich wurde von Ihrer E-Mail sehr entmutigt, Rohit, weil sie so gut das schlampige Denken veranschaulicht, das Erklärungen von evangelikalen Gemeindedienern kennzeichnet. (Ich nehme natürlich an, dass Sie die Ansichten Ihres Pastors korrekt wiedergegeben haben und nicht Sie derjenige sind, der durcheinander ist!) Seine verworrene Antwort auf Ihr Argument unterstreicht, wie wichtig eine philosophische Grundausbildung in den Seminary-Studiengängen unserer künftigen Gemeindediener wäre.

Der fundamentale Irrtum in seiner Antwort liegt im Unterschied zwischen der Wahrheit einer Prämisse und ihrer Berechtigung. Ich sehe es als offensichtlich an, dass eine Aussage auch dann wahr sein kann, wenn wir überhaupt keine Belege für ihre Wahrheit haben; genauso können wir auch sehr starke Belege für die Wahrheit einer Aussage haben, die tatsächlich aber falsch ist. Ich überlasse es Ihnen, sich Beispiele dafür auszudenken.

Nun, ich denke nicht, dass Ihr Pastor wirklich die Wahrheit von Prämisse (2) bestreitet (wenn er das täte, sollten Sie sich lieber nach einer anderen Gemeinde umsehen!). Er ist vielmehr der Meinung, dass wir keine Berechtigung dafür haben, (2) ohne unseren Glauben an Gott zu glauben. Er denkt nämlich, dass wir die Basis für objektive moralische Werte kennen, sobald wir wissen, dass ein transzendenter Gott existiert. Er glaubt also sehr wohl, dass objektive moralische Werte existieren und sollte daher (2) zustimmen.

Außerdem folgt (3) logisch aus (1) und (2) aufgrund der Schlussregel modus tollens. Ihr Pastor sollte also an der Logik des Arguments nichts auszusetzen haben. (Ihr Versuch, seine Denkweise zu rekonstruieren, gibt seine Argumentation vermutlich nicht korrekt wieder, weil das verwendete Argument logisch ungültig ist: Keine Logikregel erlaubt Ihnen, (3') aus (1') und (2') zu schließen.)

Vielmehr versteht man die Kritik Ihres Pastors am besten als Behauptung, dass wir das moralische Argument nicht verwenden können, und zwar nicht, weil es formal ungültig ist oder falsche Prämissen hat, sondern weil wir unseren Glauben als Wahrheit voraussetzen, d. h. der einzige Grund, (2) zu glauben, ist der, dass wir schon (3) glauben. Jeder, der dieses Argument verwendet, argumentiert also zirkulär.

Auch wenn man es so versteht, irrt er sich meiner Meinung nach eindeutig. Die Menschen glauben (2) nicht, weil sie an Gott glauben. Sie glauben an (2) aufgrund ihrer moralischen Erfahrung, in der sie bestimmte Werte wahrnehmen, die sich uns aufdrängen, und bestimmte Pflichten, die uns auferlegt sind. Das gilt für Atheisten und Agnostiker genauso wie für Theisten. Nicht-Theisten, die (2) akzeptieren, tun das offensichtlich nicht, indem sie Gottes Existenz voraussetzen, und Theisten genauso wenig, würde ich sagen.

Natürlich könnte Ihr Pastor skeptisch in Bezug auf unsere moralische Erfahrung sein, weil er meint, sie kann genauso gut auf soziale Konditionierung zurückzuführen sein wie auf eine echte Erfahrung moralischer Werte. Doch warum sollte man ihm hier zustimmen? Ich glaube eher meinen Wahrnehmungen objektiver moralischer Werte und Pflichten als den Prämissen in Argumenten für moralischen Skeptizismus. Und die meisten Nicht-Theisten, die wir zu überzeugen suchen, tun das ebenso.

Ihr Pastor scheint die Wissensfolge (ordo cognoscendi) mit der Seinsfolge (ordo essendi) zu verwechseln. Bei der Wissensfolge nehmen wir zuerst ein Reich objektiver moralischer Werte wahr und schließen dann auf Gott als ihren Grund. Doch bei der Seinsfolge ist Gott als Grund objektiver moralischer Werte primär, und die objektive Realität moralischer Werte hängt von ihm ab. Nur weil Gott in der Seinsfolge zuerst kommt, heißt das nicht, dass er in der Wissensfolge zuerst kommt.

Um also Ihre Frage zu beantworten: Am besten überzeugt man jemanden von der objektiven Realität moralischer Werte, indem man sich auf dessen eigene moralische Erfahrung beruft. Führen Sie einige Beispiele von moralischen Schandtaten an und fragen Sie Ihr Gegenüber, ob er der Meinung ist, dass solche Dinge wirklich böse oder falsch sind. Sie werden, denke ich, feststellen, dass 98 % Ihrer Gesprächspartner aufgrund ihrer Erfahrung zustimmen werden, dass wir zumindest einige objektive moralische Werte und Pflichten wahrnehmen. Bei solchen Menschen setzt das Argument nicht die Existenz Gottes voraus.

(Übers.: J. Booker)

Link to the original article in English: http://www.reasonablefaith.org/pastors-need-apologetics-too

- William Lane Craig