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#77 Mittleres Wissen und christlicher Partikularismus

June 01, 2016
F

Frage 1:

Sehr geehrter Herr Prof. Craig,

was wäre Ihre Antwort auf das folgende Argument?

1. Der Gott des Christentums sehnt sich stark nach einer liebevollen Beziehung mit fast jedem Menschen, und möchte, dass sie ewig anhält. [christlich-theologische Annahme]
2. Eine liebevolle Beziehung mit Gott ist nur dann möglich, wenn man (a) glaubt, dass er existiert und (b) sich für eine liebevolle Beziehung mit Gott entscheidet.
3. Wenn der Gott des Christentums also existiert, würde er zur Gewährleistung von Bedingung (a) fast jedem seine Existenz bekannt machen, da er ja möchte, dass die Menschheit eine Beziehung zu ihm hat. (aus 1, 2)
4. Es gibt jede Menge sich gegenseitig widersprechende Religionen und religiöse Überzeugungen (Christentum, Islam, Hinduismus, Buddhismus, Säkularismus usw.) und mehr Menschen, die nicht an den Gott des Christentums glauben, als Menschen, die schon an ihn glauben. [empirische Annahme]
5. Also glaubt nicht fast jeder Mensch, dass der Gott des Christentums existiert. (aus 4)
6. Also ist die Existenz des Gottes des Christentums nicht fast jedem Menschen bekannt. (aus 5)
7. Also existiert der Gott des Christentums nicht. (aus 6, 3)

Grüße
Spencer

Frage 2:

Ich habe Sie ein paar Mal über religiösen Pluralismus sprechen hören, und jedes Mal haben Sie eine Ihrer Meinung nach plausible Lösung für das Problem der Nichtevangelisierten dargelegt. Wenn ich Ihre Ansicht richtig verstehe, bestimmt Gott die Zeit und den Ort der Existenz jedes Menschen, und zwar aufgrund seines mittleren Wissens darüber, wie sie auf das Evangelium reagieren würden, wenn sie es hören würden. Diejenigen, von denen er weiß, dass sie dem Evangelium nicht glauben würden, wenn sie es hören würden, werden bestimmt, in einer Zeit und an einem Ort zu leben, in der bzw. an dem das Evangelium nicht gehört wird. Diejenigen, von denen er weiß, dass sie das Evangelium glauben würden, wenn sie es hören würden, werden bestimmt, in einer Zeit und an einem Ort zu leben, in der bzw. an dem sie das Evangelium hören werden.

Zwar finde ich diesen Vorschlag attraktiv, doch scheint sein Gelingen den Glauben an die Präexistenz der Seelen zu erfordern, was bedeuten würde, dass Gott bestimmte Seelen bestimmten Körpern zuteilt, wenn diese geschaffen werden: die nicht-glaubenden Seelen werden in Körper gelegt, die in Gebieten leben, wo das Evangelium nicht gehört wird (und auch an manchen Orten, wo es schon gehört wird), und glaubende Seelen werden dort in Körper gelegt, wo das Evangelium gehört wird. Wie könnte Gott sonst bestimmen, dass Menschen in einer bestimmten Zeit oder an einem bestimmten Ort leben? Ich bin mir relativ sicher, dass Sie nicht an die Präexistenz der Seele glauben; wie würden Sie dann erklären, wie Gott sicherstellen kann, dass Ungläubige – und nur Ungläubige – zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort geboren werden?

Jason

United States

Prof. Craigs Antwort


A

Ich nehme Ihre Frage zuerst, Spencer. Ich habe mich an verschiedenen Stellen mit diesem Argument befasst, z. B. in meiner Debatte mit Theodore Drange und in meiner Abhandlung über die Verborgenheit Gottes in Philosophical Foundations for a Christian Worldview [1]. Der entscheidende Fehler des Argumentes ist die Prämisse (3). Ausgehend davon, dass Gott mittleres Wissen hat, also das Wissen darüber, was jeder Mensch tun wird – in welchen Umständen auch immer er von Gott gestellt wird – weiß Gott, welche Belege ohne Zwang bei jedem Menschen dem Glauben förderlich sein werden. Er weiß also beispielsweise, dass eine bestimmte Person, auch wenn sie noch mehr Belege bekäme, immer noch nicht freiwillig eine liebevolle Beziehung zu Gott eingehen würde. Natürlich kann es sein, dass diese Person zum Glauben daran kommt, dass so ein Wesen wie Gott existiert, aber das heißt nicht, dass diese Person Gott kennen und lieben lernen würde. In einem solchen Fall ist Gott, da er der Person ja genügend Gründe für den Glauben geliefert hat (einschließlich des Zeugnisses des Heiligen Geistes), nicht dazu verpflichtet, einer solchen Person mehr Belege zu liefern, da er weiß, dass das nichts bringen würde. Ja, es ist durchaus denkbar, dass dies sogar zu Umständen führen würde, in denen eine andere Person dann nicht zur rettenden Erkenntnis Gottes kommt, sodass das gesamte Verhältnis von Geretteten zu Verlorenen ein schlechteres wäre! Es ist sogar denkbar, dass in einer Welt, in der die Existenz Gottes so offensichtlich wäre wie die Nase in Ihrem Gesicht, ein noch kleinerer Anteil der Weltbevölkerung Gott kennen und lieben lernen würde als in der aktualen Welt. Sie sehen also sicherlich ein, dass der Nicht-Theist mit (3) sich wirklich überfordert, indem er über Dinge spekuliert, die über unsere Erkenntnismöglichkeiten hinausgehen.

Nun ist diese Perspektive des mittleren Wissens ganz offensichtlich relevant für die Frage nach dem Schicksal der Nichtevangelisierten, die Jason gestellt hat. Sie haben die Ansicht nicht ganz korrekt wiedergegeben, Jason. Gemäß dieser Ansicht ist es nämlich möglich, dass Gott die Welt so angeordnet hat, dass all diejenigen, die das Evangelium nie hören und verloren gehen, das Evangelium auch dann nicht angenommen hätten und gerettet worden wären, wenn sie es gehört hätten. Doch ganz offensichtlich gibt es nicht wenige Menschen, die das Evangelium nicht annehmen würden, wenn sie es hören würden, es aber eben schon hören! Und wiederum: Nicht alle Menschen, die dem Evangelium glauben würden, wenn sie es hören würden, werden in einer Zeit und an einem Ort geboren, in der bzw. an dem sie es dann auch hören, denn es ist möglich, dass einige der Nichtevangelisierten sehr wohl positiv auf Gottes allgemeine Offenbarung in der Natur und dem Gewissen reagieren und so durch den Sühnetod Jesu errettet werden, ohne Christus bewusst zu kennen. Mein Bedenken bezieht sich auf die Nichtevangelisierten, die Gottes allgemeine Offenbarung ablehnen und verdammt werden, dem Evangelium aber geglaubt hätten, wenn sie es gehört hätten. Der Lösungsvorschlag geht also dahin, dass es aufgrund der Vorsehung Gottes möglich ist, dass es keine solche Menschen gibt. Gott liebt zu sehr, als dass er zulassen würde, dass jemand wegen der historischen und geographischen Zufälle seiner Geburt verdammt wird.

Ein solcher Vorschlag erfordert in keiner Weise die Präexistenz der Seele vor ihrer Inkarnation. Eine solche Hypothese ist weder eine notwendige noch eine ausreichende Bedingung für meinen Vorschlag. Was vielmehr erforderlich ist und ausreicht, ist mittleres Wissen. Wenn Gott in seiner Allwissenheit weiß, was jeder mögliche Mensch, den er schaffen möchte, in allen möglichen Umständen freiwillig tun würde, in die Gott ihn hineinstellen möchte, dann kennt Gott die Bedingungen, unter denen jeder mögliche Mensch die Errettung freiwillig akzeptieren oder ablehnen würde. Bedenken Sie: Gott hat (logisch gesehen) schon vor seinem Dekret, überhaupt etwas zu schaffen, mittleres Wissen. Es gibt vor seinem Dekret also gar keine präexistenten Seelen.

Da die Bibel sagt, dass Gott möchte, dass alle Menschen gerettet werden, können wir darauf vertrauen, dass er die Welt in seiner Vorsehung so anordnet, dass jedem Menschen genug Gnade entgegengebracht wird, um gerettet zu werden, und genug Belege, um zu glauben. Niemand kann am Tag des Jüngsten Gerichts vor Gott stehen und sich über einen Mangel an Belegen beschweren, denn Gott wusste, dass dieser Mensch auch dann nicht seine Errettung freiwillig angenommen hätte, wenn er ihm mehr Belege gegeben hätte.

(Übers.: J. Booker)

Link to the original article in English: http://www.reasonablefaith.org/middle-knowledge-and-christian-particularism

  • [1]

    J. P. Moreland und W. L. Craig, Inter Varsity Press, 2003. – Anm. d. Übers.

- William Lane Craig