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#594 Theistische Argumente und marxistisch-dialektischer Materialismus

May 19, 2019
F

Sehr geehrter Prof. Craig,

Ich habe eine Frage für Sie über das kosmologische Argument von Leibniz. Mich interessiert die Rationalität der zweiten Prämisse dieses Arguments, auch wenn Ihnen das vielleicht merkwürdig erscheinen mag. Ich bin mir nicht sicher, ob diese Prämisse gültig ist (nicht in Bezug darauf, ob sie wahr ist, sondern ob sie vernünftig ist).

Ich lebe in einem Land, in dem, wie Sie ja wissen, die marxistische Philosophie und der sogenannte dialektische Materialismus als einzig wahre Lehre gelehrt wurden. Und dieser dialektische Materialismus ist eine Philosophie, die jegliche Kausalitäten und harten Fakten abstreitet. Seine Fürsprecher glauben, dass das Universum notwendigerweise existiert; dass es existiert, weil es aus der Notwendigkeit seines eigenen Wesens heraus existiert.

Doch um genauer zu sein: Es ist wichtig zu sagen, dass die Befürworter des dialektischen Materialismus in der Regel nicht behaupten, dass unser Universum aus der Notwendigkeit seines eigenen Wesens heraus existiert, sondern lehren, dass die Materie aus der Notwendigkeit seines eigenen Wesens heraus existiert. Sie können beispielsweise an die Existenz vieler Universen, also eines Multiversums, glauben und dennoch sagen, dass all diese Universen nur Formen und Modifikationen des Seins der Materie sind, die notwendigerweise existiert. „Die erste Eigenschaft der Materie ist, ihre eigene Ursache zu sein“, lehrt der dialektische Materialismus.

Sie kritisieren derlei Einwände mit dem Argument, dass das Universum anders sein kann und Materie aus Quarks besteht, die ihre Bestandteile zu sein scheinen. Und wenn diese Bestandteile der Materie nicht existieren würden, würde auch die Materie nicht existieren.

Doch der dialektische Materialismus besagt einfach nur, dass all diese elementaren Teilchen Seinsformen der Materie sind. Laut dieser Lehre verursachen nicht Quarks die Existenz der Materie, sondern die Materie verursacht die Existenz der Quarks. Engels schrieb, dass noch niemand jemals die Materie so gesehen hätte, dass sie nur eine Abstraktion sei, keine Ansammlung von Teilchen (was jedoch dem anderen Dogma des dialektischen Materialismus – dass alles Sein vollständig zu erkennen ist – widerspricht).

Die Befürworter des dialektischen Materialismus glauben also, dass Quarks nur eine Modifikation der Materie sind, die nicht existieren muss. Sie lehnen Ihre Position ab, nach der die Materie nicht existieren würde, wenn es keine Quarks gäbe. Nach ihrer Meinung ist jede physisch mögliche Welt eine mögliche Modifikation der abstrakten (!) materiellen Substanz, und die Teilchen sind nicht Bestandteile der Materie, sondern Formen davon. Der dialektische Materialist würde die Aussage „Quark ist die Grundeinheit der Materie“ als falsch bezeichnen. Kennen Sie also gute Gründe dafür, die zweite Prämisse des Leibniz-Arguments für wahr zu halten? Gibt es einen adäquaten Einwand gegen dieses Argument der Materialisten? Tut mir leid, falls ich einen Denkfehler gemacht habe.

Nikolay

Russland

Afghanistan

Prof. Craigs Antwort


A

Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr ich mich über Ihre Frage gefreut habe, Nikolay. Ich habe meine Reisen nach Russland so sehr genossen und liebe das reiche kulturelle Erbe Russlands. Ihr Land hat in den letzten hundert Jahren schlimm gelitten, und ich bedaure das sehr.

Mir ist während der Zusammenstellung meines ersten Buches Die Existenz Gottes und der Ursprung des Universums (1979) zum ersten Mal aufgefallen, dass das kalam-kosmologische Argument[1], wenn es stichhaltig ist, ein Stich ins Herz des dialektischen Materialismus ist. Denn wie Lenin erkannte, ist dem dialektischen Materialismus die Behauptung inhärent, dass der Regress der vergangenen Ereignisse in der Geschichte der Welt unendlich ist. Die Materie hat eine ewige Vergangenheit und entwickelt sich schon ewig. Wenn also der Regress vergangener Ereignisse endlich ist und einen Anfang hatte, dann ist die marxistische Lehre des dialektischen Materialismus falsch. Man kann gar nicht anders als zu spekulieren, ob der anfängliche Widerstand russischer Kosmologen gegen das Urknallmodell des Universums und zugunsten oszillierender Modelle (gemäß welchen das Universum eine ewige Abfolge von Ausdehnungen und Schrumpfungen durchläuft) vielleicht durch eine vorhergehende philosophische Verpflichtung gegenüber oder Neigung zum dialektischen Materialismus beeinflusst wurde. Wie auch immer – ich denke, die direkteste und überzeugendste Widerlegung des dialektischen Materialismus ist daher das auf der Endlichkeit der Vergangenheit basierende kalam-kosmologische Argument.

Doch Ihre Frage bezieht sich auf eine andere Version des kosmologischen Arguments, nämlich Leibniz‘ Kontingenzargument. Für die Leser, die es vielleicht noch nicht kennen, formuliere ich es nochmal aus:

  1. Alles, was existiert, hat eine Erklärung für seine Existenz, entweder in der Notwendigkeit seines eigenen Wesens oder in einer externen Ursache.
  2. Wenn das Universum eine Erklärung für seine Existenz hat, dann ist diese Erklärung Gott.
  3. Das Universum existiert.
  4. Also ist die Erklärung für die Existenz des Universums Gott.

Nun lehnt, wie Sie sagen, der dialektische Materialist ja (2) ab. In meiner Verteidigung dieser Prämisse untersuche ich den Einwand, dass die Erklärung für die Existenz des Universums vielleicht die ist, dass das Universum aus einer Notwendigkeit seines eigenen Wesens heraus existiert. Das scheint mir auch der Weg zu sein, den der dialektische Materialist einschlagen muss. Denn mit „Universum“ meine ich die gesamte zusammenhängende Raumzeit-Realität – d. h., dasselbe, was der dialektische Materialist mit „Materie“ meint.

Dialektische Materialisten sagen daher vergeblich, dass sie „an die Existenz vieler Universen, also eines Multiversums, glauben und dennoch all diese Universen nur Formen und Modifikationen des Seins der Materie sind, die aus der Notwendigkeit ihres eigenen Wesens heraus existiert.“ Genauso wie im Fall der oszillierenden Modelle des Universums sind all diese unterschiedlichen, sukzessiven „Universen“ in Wirklichkeit nur sukzessive Phasen desselben Universums, wie ich den Begriff definiere. Die Frage lautet also: Existiert Materie aus einer Notwendigkeit ihres eigenen Wesens heraus?

Ich behaupte, dass die Materie laut dem Standardmodell der Teilchenphysik aus Elementarteilchen, wie Quarks, besteht (Anhänger der String-Theorie könnten stattdessen winzige Strings postulieren). Es wäre unvorstellbar unplausibel, wollte man behaupten, dass jedes Quark im Universum aus metaphysischer Notwendigkeit heraus existiert. Doch wenn diese Quarks kontingent existieren, dann, würde ich behaupten, existiert auch die aus Quarks bestehende Materie kontingent.

Nun merken Sie an:

Doch der dialektische Materialismus besagt einfach nur, dass all diese elementaren Teilchen Seinsformen der Materie sind. Laut dieser Lehre verursachen nicht Quarks die Existenz der Materie, sondern die Materie verursacht die Existenz der Quarks. Engels schrieb, dass noch niemand jemals die Materie so gesehen hätte, dass sie nur eine Abstraktion sei, keine Ansammlung von Partikeln Die Befürworter des dialektischen Materialismus glauben also, dass Quarks nur eine Modifikation der Materie sind, die nicht existieren muss. Sie lehnen Ihre Position ab, nach der die Materie nicht existieren würde, wenn es keine Quarks gäbe.“

In meinem Buch habe ich diesen Einwand bereits antizipiert und habe ihm wie folgt entgegnet:

BEGINQUOTE
Beachten Sie, was der Atheist an dieser Stelle nicht sagen kann. Er kann nicht sagen, dass die Quarks nur Materie-Konfigurationen sind, die auch anders hätten ausfallen können, die Materie aber, aus der die Quarks bestehen, notwendigerweise existiert. Er kann es aus dem Grund nicht sagen, weil Quarks nicht aus etwas anderem zusammengesetzt sind! Sie selbst sind nun mal  die Grundeinheit der Materie. Wenn also ein bestimmtes Quark nicht existiert, existiert auch die Materie nicht.[2]
ENDQUOTE

Die Wucht des Wortes „Elementar…“ liegt darin, dass diese Teilchen aus nichts bestehen. Wenn Engels also sagte, dass „Materie … nur eine Abstraktion, keine Ansammlung von Teilchen ist, zeigt das bloß, wie unwissenschaftlich der dialektische Materialismus ist. Engels und Lenin schrieben im späten 19. und im frühen 20. Jahrhundert, vor der Entdeckung der Quantenphysik (ganz zu schweigen von der Allgemeinen Relativität). Sie hatten also kein Verständnis der Physik, wie wir sie heute kennen. Es gibt keine kausale Verbindung zwischen Materie und Quarks, und eine Abstraktion könnte ohnehin niemals etwas verursachen. Dialektischer Materialismus ist daher genauso inkompatibel mit der modernen Teilchenphysik wie mit dem Urknallkosmogenie.

Die heutige Physik bietet uns also gute Gründe dafür, die Behauptung des dialektischen Materialisten abzulehnen, der zufolge es falsch ist, dass „Quark die Grundeinheit der Materie ist“. Da wir wesentlich bessere Gründe haben, der heutigen Physik zu glauben als dem dialektischen Materialismus, hat dieser ein großes Problem. Das ist besonders ironisch im Hinblick auf die marxistische Behauptung, dass seine Lehre naturwissenschaftlich sei.[3]

William Lane Craig

 

[1] Dieses Argument könnte man folgendermaßen formulieren:

  1. Was zu existieren beginnt, hat eine Ursache.
  2. Das Universum begann zu existieren.
  3. Also hat das Universum eine Ursache.

[2] On Guard (Colorado Springs:  David C. Cook, 2010), S. 61.

[3] Die vielleicht beste Reaktion für den (dialektischen) Materialisten wäre, an dieser Stelle zu sagen, dass Elementarteilchen nur Konfigurationen von darunter liegenden quantenphysischen Feldern sind und dass diese Felder aus einer Notwendigkeit ihres eigenen Wesens heraus existieren. Diese Antwort verdient etwas mehr Reflexion, doch gibt es keinen Grund zur Annahme, dass quantenphysische Felder metaphysisch notwendig sind. Ja, Naturwissenschaftler nehmen an, dass möglicherweise verschiedene Felder existiert haben.

 

(Übers.: J. Booker)

Link to the original article in English: https://www.reasonablefaith.org/writings/question-answer/theistic-arguments-and-marxist-dialectical-materialism

- William Lane Craig