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#595 Ist Gott unfair?

May 19, 2019
F

Sehr geehrter Prof. Craig,

zunächst einmal danke ich Ihnen für all die Dinge, die Sie auf der ganzen Welt getan haben – sowohl für Christen, denen Sie gezeigt haben, dass sie sich nicht für ihren Glauben zu schämen brauchen, als auch für Atheisten wie mich, denen Sie gezeigt haben, dass unser intellektuelles Fundament nicht so sicher ist, wie wir gerne meinen. Dennoch bleibe ich Atheist. Warum? Sicher nicht weil ich Ihre Argumente für falsch halte – mir fällt keine plausible Widerlegung ein. Und obwohl es genauso qualifizierte naturalistische Philosophen gibt, karikieren sie die Kraft des Theismus selten so wie die Neuen Atheisten. Doch ich glaube, ich befinde mich in der Position eines verhärteten Atheisten – einer Person, die Gott verschlossen ist – obwohl ich wünschte, ich wäre es nicht.

Der Hauptgrund für diese Haltung ist kein anderer als das Problem des Übels, vor allem wenn es dabei um solch schreckliches Übel wie das geht, das Marilyn Adams beschreibt. Das Problem, auf das ich mich konzentriere, ist aber, denke ich, größer als das „bloß intellektuelle“ Problem des Übels. Und es kann auch nicht wirklich als das „emotionale Problem“ des Übels bezeichnet werden, wie Sie es nennen. Es ist nicht so, dass ich mit dem Leid in meinem Leben nicht umgehen kann, sondern dass ich nicht das Gefühl habe, einer Gottheit vertrauen zu können (obwohl mein Herz es sich anders wünscht), die bereit zu sein scheint, zuzulassen, dass ihren Geschöpfen enormes Leid widerfährt. Ich schaffe es einfach nicht, Gott um Hilfe für mein Leben zu bitten, denn dabei stellt sich mir sofort diese Frage: „Warum sollte Gott dir zuhören, wenn er zugelassen hat, dass so viele Millionen von Menschen so unbeschreiblich schlimm leiden? Mit anderen Worten: Ich kann nicht glauben, dass der Gott, der zum Beispiel den Hautausschlag meines Freundes geheilt hat oder meiner Tante ihren neuen Job geschenkt hat, derselbe Gott ist, der „passiv“ dabei zusieht, wie Tausende Kinder jeden Tag an Hunger und vermeidbaren Krankheiten sterben.

Prof. Craig, ich weiß, dass Gott, wenn er existiert, nicht grausam sein kann. Es ist nicht so, dass ich Gott verfluche oder ihn hasse, sondern dass ich, während ich mir wünsche, eine Beziehung zu ihm zu haben, ein Problem mit seiner Fairness in meinem Herz verspüre. „Warum sollte ich dieses unermessliche Privileg haben?“, frage ich. Ich möchte ihm mein Herz öffnen, doch scheint das einfach außerhalb meiner Kontrolle zu liegen.

Mit großem Respekt

Alexander

Afghanistan

Prof. Craigs Antwort


A

Danke für Ihren aufrichtigen Brief, Alexander! Ich verstehe, dass das Problem, mit dem Sie ringen, „größer als das bloß intellektuelle Problem des Übels“ ist. Dennoch scheint mir, dass einige der Aussagen, die ich in Bezug auf die probabilistische Version des Problems des Übels gemacht habe, für Ihre Fragen relevant sind. Haben Sie also bitte kurz Geduld, während ich diese Punkte nochmal durchgehe:[1]

1. Wir sind in keiner guten Position zu behaupten, dass es unwahrscheinlich ist, dass Gott keine guten Gründe dafür hat, das Leid in der Welt zuzulassen.

2. Gemessen am gesamten Indizienrahmen, ist Gottes Existenz wahrscheinlich.

3. Das Christentum beinhaltet Lehren, die die Wahrscheinlichkeit einer Koexistenz von Gott und Leid erhöhen, nämlich:

(a.) Die Hauptbestimmung des Lebens ist nicht, glücklich zu sein, sondern Gott zu kennen.

(b.) Der Mensch ist in einem Zustand der Rebellion gegen Gott und seine Absichten.

(c.) Gottes Absichten sind nicht auf dieses Leben beschränkt, sondern führen über das Grab hinaus in das ewige Leben.

(d.) Gott zu kennen ist ein unvergleichliches Gut.

Betrachten Sie nun Ihr Bekenntnis „dass ich nicht das Gefühl habe, einer Gottheit vertrauen zu können (obwohl mein Herz es sich anders wünscht), die bereit zu sein scheint, zuzulassen, dass ihren Geschöpfen enormes Leid widerfährt.“ Was ich über Punkt (1) sage, ist hierfür relevant:

BEGINQUOTE
Jedes Ereignis hat durch die Geschichte hindurch Nachwirkungen, sodass Gottes Grund dafür, es zuzulassen, erst Jahrhunderte später und in einem anderen Land zum Vorschein kommen mag. Nur ein allwissender Gott könnte die Komplexität des Unterfanges begreifen, eine Welt mit freien Menschen in Richtung seiner vorgesehenen Ziele zu steuern. Denken Sie doch bloß einmal an die unzähligen, unberechenbaren Begebenheiten, die bei einem einzigen historischen Ereignis, sagen wir dem Sieg der Alliierten am D-Day, eine Rolle spielen! Wir haben keinen Schimmer, wie viel Leid im Spiel sein könnte, damit Gott durch die frei entschiedenen Handlungen von Menschen ein beabsichtigtes Ziel erreicht. Genauso wenig sollten wir erwarten, Gottes Gründe dafür erkenne zu können, dass er Leid zulässt. Es ist nicht verwunderlich, dass uns so viel Leid sinnlos und unnötig erscheint, da wir mit einer derartigen Komplexität überfordert sind.
ENDQUOTE

Zudem führt Punkt (3a.) diesen Punkt fort, indem er uns daran erinnert, dass Gottes Absicht nicht einfach die ist, dass wir Menschen in diesem Leben glücklich sind, sondern dass Menschen in eine Rettungsbeziehung mit ihm selbst kommen.

BEGINQUOTE
Da Gottes letztes Ziel für die Menschheit jenes ist, dass sie ihn kennenlernt – was das einzige ewige Glück für den Menschen ist – kann die Geschichte ohne das Reich Gottes nicht richtig eingeordnet werden. Die Bestimmung der Menschheitsgeschichte ist das Reich Gottes. Gottes Wunsch ist es, so viele freiwillig kommende Menschen in sein Reich aufzunehmen. Es kann gut sein, dass das Leid ein von Gott verwendetes Mittel ist, freiwillig kommende Menschen in sein Reich aufzunehmen.
ENDQUOTE

Ich stütze diese Behauptung dann mit empirischen Daten aus der ganzen Welt. Ja, ich glaube, es ist überhaupt nicht unwahrscheinlich, dass es nur in einer mit natürlichen und moralischem Übel durchsetzten Welt die optimale Anzahl von Menschen gibt, die Gott aus freien Stücken annehmen und ewiges Leben finden würde. Die Bibel sagt: „Gott … will nicht, dass jemand verlorengehe, sondern dass jedermann Raum zur Buße habe“ (2. Petrus 3,9). Wir können ihm also insofern vertrauen, dass er das Leid in der Welt so anordnet, dass die optimale Anzahl von Menschen aus freien Stücken gerettet wird und ewiges Leben finden wird.

Sie fügen dann noch hinzu: „Ich kann nicht glauben, dass der Gott, der zum Beispiel den Hautausschlag meines Freundes geheilt hat oder meiner Tante ihren neuen Job geschenkt hat, derselbe Gott ist, der „passiv“ dabei zusieht, wie Tausende Kinder jeden Tag an Hunger und vermeidbaren Krankheiten sterben.“ Die beiden Punkte oben werfen Licht in dieses Paradox. Ein souveräner und liebender Gott ist nicht passiv, sondern weiß, wann einzuschreiten ist und wann nicht. Aufgrund unserer inhärenten kognitiven Beschränkungen wie unserer Endlichkeit in Raum und Zeit sind wir nicht in der Position, zu behaupten, dass er falsch vorgeht. Wenn er nicht einschreitet, um schlimmes Leid abzuwenden, liegt es nur daran, dass er moralisch berechtigte Gründe dafür hat, es zuzulassen.

Sie schreiben: „Ich schaffe es einfach nicht, Gott um Hilfe für mein Leben zu bitten, denn dabei stellt sich mir sofort diese Frage: „Warum sollte Gott dir zuhören, wenn er zugelassen hat, dass so viele Millionen von Menschen so unbeschreiblich schlimm leiden?“ Gott hört Ihre Bitten, weil er gnädig ist und Sie und andere segnen will. Doch Gott weiß, welche Gebete am besten erhört und welche am besten abgelehnt werden sollen. Zwar wissen wir nicht, ob Gott uns das geben wird, worum wir bitten, doch sollten wir ihn kühn darum bitten und dann die Antwort akzeptieren, die er gibt. Wir setzen unser Vertrauen auf seine Vorsehung.

Sie sagen: „Es ist nicht so, dass ich Gott verfluche oder ihn hasse, sondern dass ich, während ich mir wünsche eine Beziehung zu ihm zu haben, ein Problem mit seiner Fairness in meinem Herz verspüre. ‚Warum sollte ich dieses unermessliche Privileg haben?‘, frage ich.“ Sie haben Recht, Alexander: Es ist ein unermessliches Vorrecht, dass Gott uns sündigen Menschen irgendeine Beachtung schenken sollte. Nichts an Ihnen verdient seine Gnade. Ein souveräner Gott legt selbst fest, wie seine Gaben am besten auszuteilen sind, um möglichst viele Menschen ohne Zwang in eine rettende Beziehung mit ihm selbst zu bringen.

Außerdem sind meine Bemerkungen zu (3c) und (3d) relevant. Gott geht es primär nicht darum, wie es Leuten allein in diesem irdischen Leben ergeht, sondern nur wie sich das im Hinblick auf das ewige Leben gestaltet. Wie ich an anderer Stelle angemerkt habe: „Je länger wir in der Ewigkeit sind, desto mehr schrumpfen die Leiden dieses Lebens auf einen vergleichsweise winzigen Moment.“ Die Leiden dieses Lebens werden eine weit entfernte Erinnerung sein und werden von dem Trost begleitet, dass sie zu den Mitteln gehörten, mit denen Gott Menschen zum ewigen Leben führte. Zudem ist Gott zu kennen ein unvergleichliches Gut. Das löst jegliches Fairness-Problem auf. Wie Marilyn Adams, die Sie erwähnten, betont: Gott, den Locus der unendlichen Güte und Liebe, zu kennen, ist ein unvergleichliches Gut, die Erfüllung menschlicher Existenz. Die Leiden dieses Lebens können damit überhaupt nicht verglichen werden. So kann der Mensch, der Gott kennt, ganz egal wie sehr er leidet, ganz egal wie schrecklich sein Schmerz ist, trotzdem wahrhaftig sagen, „Gott ist gut zu mir!“, einfach aufgrund der Tatsache, dass er Gott kennt – ein unvergleichliches Gut.

Nun denken Sie vielleicht, dass dieses ganze intellektuelle Getue irrelevant für Ihr wirkliches Hindernis ist. „Ich möchte ihm mein Herz öffnen, doch scheint das einfach außerhalb meiner Kontrolle zu liegen.“ Hierzu möchte ich zwei Dinge sagen. Erstens: Die oben aufgelisteten Wahrheiten gut zu erfassen, kann dabei helfen, ein jedes Hindernis dafür, Gott zu vertrauen, aus dem Weg zu räumen. Es gibt einfach keinen guten Grund, ihm nicht zu vertrauen. Wenn Sie einmal sein providentielles Lenken der Menschheitsgeschichte erfassen, das ja das Ziel hat, so viele Menschen wie möglich ohne Zwang in eine Beziehung mit ihm selbst zu bringen, dann löst sich jede empfundene Unfairness auf seiner Seite ganz einfach in Luft auf.

Zweitens: Da Sie verstehen, dass Gott wesensmäßig gut ist, sollten Sie nun mit geistlichen Praktiken beginnen, die eine persönliche Gotteserkenntnis fördern. Sie könnten zum Beispiel über Gott als das größte vorstellbare Wesen nachdenken, ein Wesen, das ganz natürlich und aus sich selbst heraus gnädig und voller Liebe ist. Lesen sie die Evangelien über das Leben Jesu und denken Sie über sein Selbstopfer für Sie nach, das ja so weit ging, dass er dadurch am Kreuz die Strafe für Ihre Sünden trug. Fangen Sie an, eine Gemeinde oder Kirche zu besuchen, wo Sie miterleben können, wie Gott von Christen zusammen angebetet und die Bibel treu gepredigt wird. Beten Sie, dass Gott Ihr Herz für ihn öffnet. Sind einmal die intellektuellen Hindernisse ausgeräumt, können Sie die Dinge tun, die dazu beitragen werden, Ihr Herz weich zu machen und Sie zum bußfertigen Glauben zu bringen.

 

[1] All diese Punkte sind in On Guard zu finden, im Kapitel über das Problem des Leids.

 

(Übers.: J. Booker)

Link to the original article in English: https://www.reasonablefaith.org/writings/question-answer/is-god-unfair

 

- William Lane Craig