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#293 Rechtfertigung für die zweite Prämisse des moralischen Argumentes

August 05, 2018
F

In den letzten Wochen liefen auf dem Forum von RF zahlreiche Diskussionen über die Prämisse #2 des moralischen Argumentes – speziell ging es um die Frage, auf welcher Grundlage wir die Existenz objektiver moralischer Werte und Pflichten bestätigen können.

Wie ich Ihr Argument zur Bestätigung der Prämisse verstehe, behaupten Sie, dass Sie durch Ihre eigenen moralischen Erfahrungen eine berechtigterweise basale Überzeugung haben, dass objektive Moral existiert. Während irgendein Psychopath behaupten mag, es sei in Ordnung, ein Baby aus Spaß zu quälen, trüge dies nichts dazu bei, die Rechtfertigung zu widerlegen, die Sie auf Ihre eigene moralische Erfahrung gegründet haben, dass es falsch ist, (immer falsch war und immer falsch sein wird), ein Baby aus Spaß zu quälen.

Die Kritiker von Prämisse #2 erwidern, diese Antwort sei eine emotionale Antwort, nicht eine intellektuelle und dass Sie mit einem Appell an das eigene Moralgefühl nicht objektiver sind als die Person, die anders als Sie denkt (und daher sei die Antwort subjektiv).

In Ihrem Vortrag „What Happens When We Die“ sagen Sie über diejenigen, die eine Nahtoderfahrung hatten: „Die Erfahrung der einen Person ist genauso real wie die Erfahrung einer nächsten. Wie beurteilt man also, wessen Erfahrung des Himmels wirklich authentisch ist?“ Aus dem gleichen Grund kann man fragen: Wenn meine moralische Erfahrung mir sagt, dass etwas falsch ist, aber jemand anders dies anders empfindet – dann sind beide Erfahrungen gleichermaßen real, aber widerstreitend. Somit stehen wir wieder vor demselben Rätsel, nämlich zu entscheiden, welche nun denn wirklich authentisch ist.

Vielleicht verstehe ich falsch, was Sie mit „moralischen Erfahrungen“ meinen und gleite infolge dessen in angewandte Ethik ab. Darum lautet meine erste Frage:

  1. Bedeutet „moralische Erfahrung“ das, was ich als richtig oder falsch in einer bestimmten Situation empfinde oder bedeutet „moralische Erfahrung“ lediglich, dass „es in einer bestimmten moralischen Situation ein richtiges oder falsches Handeln geben wird, auch wenn ich vielleicht nicht weiß, worin dies besteht?“ Mit anderen Worten: Lediglich aufgrund der Annahme, dass ETWAS falsch ist, wird Prämisse #2 bestätigt, ungeachtet des Meinungsunterschieds, worin denn nun wirklich das falsche Handeln besteht?

Ich kann nicht umhin zu meinen, dass mir immer noch ein Puzzleteilchen fehlt und dass es mit diesem Konzept von moralischer Ontologie versus angewandte Ethik zu tun hat. Es scheint, dass Diskussionen um die Objektivität der Moral häufig in Diskussionen um angewandte Ethik abschweifen (wie z. B.: „Einige Menschen denken, es sei falsch zu lügen, selbst, wenn man dadurch ein Leben rettet; andere denken das nicht – deshalb ist Moralempfinden subjektiv“). Sie behaupten häufig, Prämisse #2 appelliere nicht an irgendeine Situationsethik oder angewandte Ethik, sondern vielmehr an Ihre eigene echte basale Überzeugung. Aber dann lautet meine zweite Frage:

  1. Worin genau BESTEHT diese berechtigterweise basale Überzeugung, die Ihnen erlaubt, Prämisse #2 zu bestätigen? Die Beispiele, die Sie geben, beinhalten fast immer eine Situation („es ist falsch, ein Baby aus Spaß zu quälen“, „es ist falsch, Afrikaner zu kidnappen und sie als Sklaven zu gebrauchen“, „die spanische Inquisition war falsch“). Diese Beispiele scheinen in den Appell an angewandte Ethik abzugleiten.

Offensichtlich dachten Menschen zu einer Zeit (vielleicht sogar heute noch), dass dieses Verhalten nicht falsch sei – aber nochmals: Der Appell als Rechtfertigung für den Glauben an Prämisse #2 lautet, dass „diejenigen Menschen, die anders dachten, nichts dazu beitragen, meine eigene berechtigterweise basale Überzeugung zu unterhöhlen, dass sie falsch lagen“. Doch ich komme wieder auf Ihr Zitat über die Nahtoderfahrungen zurück: Die Erfahrungen jedes Menschen sind genauso real wie die des nächsten – dessen „berechtigerweise basale Überzeugung“ richtig oder falsch ist? Wovon handelt diese berechtigterweise basale Überzeugung überzeugt, wenn nicht von der Wahrheit bestimmter angewandter Ethiken („es ist falsch, ein Baby zu ermorden, damit es aufhört zu weinen“).

Ich kann einfach dieses Konzept der moralischen Ontologie und seine Unterscheidung von angewandter Ethik nicht genau benennen. Vielleicht können Sie helfen, dies auf eine andere Art zu erklären, als Sie es in der Vergangenheit getan haben.

Danke,

John

United States

Prof. Craigs Antwort


A

Ich bin froh, dass Sie unser Offenes Forum für die Diskussion als nützlich empfinden, John! Ohne die Beiträge gelesen zu haben, auf die Sie sich beziehen, lassen Sie mich auf die Frage so antworten, wie Sie sie gestellt haben.

Für diejenigen, die mit der Formulierung des moralischen Argumentes in meiner Version nicht vertraut sind, Ihre Frage betrifft die Rechtfertigung, die wir für die Prämisse des folgenden Argumentes haben:

1. Wenn Gott nicht existiert, dann existieren auch keine objektiven moralischen Werte und Pflichten.
2. Objektive moralische Werten und Pflichten existieren.
3. Also existiert Gott.

Ich finde diese Argumentation sehr überzeugend, denn obwohl Menschen sich mit dem Munde zum Relativismus bekennen, sind sie in Wirklichkeit der Wahrheit von (2) tief verpflichtet. Ja, ich wäre überrascht, wenn die Kritiker der Argumentation, die Sie erwähnen, nicht selbst an (2) glauben. In diesem Fall sind sie, selbst, wenn sie denken, dass (2) nicht als wahr erwiesen werden kann, solange sie auch (1) akzeptieren, auf Androhung der Irrationalität hin logisch der Schlussfolgerung verpflichtet, dass Gott existiert. In diesem Sinne ist es besser, anstatt mit jemandem über eine Prämisse in Streit zu geraten, an die er bereits glaubt, ihn einfach zu fragen: „Glauben Sie (2)? Wenn ja, dann ist der einzige Streitpunkt (1).

Die Verwendung von Beispielen kann in diesem Licht betrachtet werden. Wenn die Person nicht sicher ist, ob er (2) glaubt oder sagt, er glaube (2) nicht, können Sie ihm helfen, seine Überzeugungen zu klären, indem sie ihm einfach spezifische Fragen stellen. Ich erinnere mich an ein einstiges Gespräch mit einem dunkelhäutigen Studenten, der behauptete, ein moralischer Skeptiker zu sein. Ich fragte ihn einfach: „So denken Sie also, dass Rassismus nicht wirklich unmoralisch sei?“ Er dachte einen Augenblick nach und sagte dann: „Ich denke, ich glaube, dass er unmoralisch ist.“

Das klärte es für ihn, und wir konnten weitergehen. Sie können diese dialektische Methode als eine Übung in Werteklärung betrachten, indem Sie krasse Beispiele statt unklarer moralischer Dilemma anführen. Hartgesottene Skeptiker mögen auf ihrem Standpunkt beharren und behaupten, religiöse Verfolgung, sexuelle Übergriffe, Kindesmissbrauch, Intoleranz und dergleichen seien moralisch neutral, aber dadurch offenbaren sie lediglich ihre Unaufrichtigkeit. Wenn die Person, mit der sie es zu tun haben, kein Psychopath ist, dann entsteht der Widerstand gegen (2) in der Regel aus dem Wunsch, die Schlussfolgerung des Argumentes zu vermeiden.

Was die Rechtfertigung für (2) betrifft, haben Sie mit der Aussage recht, dass dies eine berechtigterweise basale Überzeugung ist, die auf moralischer Erfahrung gründet. Moralische Realisten haben dies mit dem Glauben an die Realität der externen Welt physischer Objekte um uns herum verglichen. Der Glaube an physische Objekte ist eine berechtigterweise basale Überzeugung, die auf unserer Sinneswahrnehmung beruht. Es gibt keine Möglichkeit, außerhalb unserer Sinneswahrnehmungen zu treten, um deren Wahrhaftigkeit zu prüfen. Dennoch, solange bis unsere Sinneswahrnehmungen widerlegt werden, sind wir rational, wenn wir daran festhalten.

Der Appell an Beispiele ist in dieser Beziehung ein Appell an die moralische Erfahrung, die moralische Überzeugungen begründet. Es ist so, als sage man jemandem: „Siehst du diesen Stein nicht?“ Wenn ich ihn auf deinem Fuß fallen lasse, wirst du dann immer noch seine Existenz leugnen?“ „Siehst du nicht, dass Kinder aus Spaß zu quälen, moralisch abscheulich ist?“ Wenn jemand dies deiner Tochter antäte, würdest du dann immer noch behaupten, es sei moralisch neutral?“

Die obige Rechtfertigung ist die Standardrechtfertigung, die moralische Realisten jeglicher Couleur als Rechtfertigung für ihre moralischen Überzeugungen bieten. Ich denke, es ist offensichtlich, dass diejenigen, die das leichthin als reinen Appell an die Emotionen abtun, dadurch nur ihr mangelndes Verständnis verraten. So als würde man sagen, mein Glaube an die Realität von Mount Rushmore gründe rein auf Emotionen!

Nun ist Ihre Frage in Bezug auf die Wahrhaftigkeit von Nahtoderfahrungen (NTE) sehr interessant. Zu behaupten, eine Überzeugung sei berechtigterweise basal, bedeutet nicht zu sagen, sie sei nicht widerlegbar. Wie Plantinga betont hat, werden berechtigterweise basale Überzeugungen häufig mit Gegenargumenten konfrontiert, und dann wird eine Widerlegung des Gegenargumentes erforderlich, wenn man rational an dieser Überzeugung festhalten will. Außerdem sind berechtigterweise basale Überzeugungen unterschiedlich stark berechtigt und werden daher auch unterschiedlich standhaft verteidigt. Die Überzeugung meines Gedächtnisses, dass ich die Autoschlüssel im Zündschloss gelassen habe, ist berechtigterweise basal, wird aber sehr leicht vertreten und leicht widerlegt, wohingegen meine Überzeugung, dass ich einen Kopf habe, sehr viel kraftvoller begründet ist und viel zögernder aufgegeben wird.

Somit hängt die Frage nach der Wahrhaftigkeit von Nahtoderfahrungen von ihrer Berechtigung ab und davon, welche Gegenargumente wir gegen sie haben. Vielleicht sind sie nicht so gut begründet wie unsere offensichtlichsten moralischen Überzeugungen. Eine der Ursachen, weshalb ich solche Erfahrungen ernst nehme, ist genau aufgrund der überzeugenden Berechtigung, die diejenigen, die sie durchlaufen haben, für diese in Anspruch nehmen.

Eben Alexander hat gesagt, dass seine NTE weit realer war als seine Erfahrung der Welt um uns herum. Aber, wie ich in der Passage, die Sie zitierten, sagte: Wir haben ein überzeugendes Argument gegen die Wahrhaftigkeit dieser Erfahrungen. Sie widersprechen sich selbst. So müssen einige dieser Erfahrungen nicht-wahr sein. Beachten Sie, dass ich in der Predigt, die Sie zitieren, über Erfahrungen anderer spreche, nicht über die eigenen. Für die Person selbst mag es rational sein, zu glauben, dass das, was sie erfahren hat, wahrhaftig ist. Aber da ich keine NTE hatte, bin ich ungewiss, wem ich glauben soll.

Im Gegensatz dazu teilen wir alle moralische Erfahrung. Und einige unserer moralischen Überzeugungen sind sehr kraftvoll begründet. Wenn der Psychopath berichtet, dass für ihn die Vergewaltigung eines Kindes ganz in Ordnung sei, handeln wir rational, wenn wir dies als ein Defizit in seiner moralischen Wahrnehmung betrachten, das Blindheit oder Taubheit gleichkommt, anstatt zu denken, dass unsere moralische Erfahrung nicht wahr sei. Warum sollte man auf ihn hören? – Er ist ein Psychopath!

So lauten die Antworten auf Ihre spezifischen Fragen:

  1. Bedeutet „moralische Erfahrung“ das, was ich als richtig oder falsch in einer bestimmten Situation empfinde oder bedeutet „moralische Erfahrung“ lediglich, dass „es in einer bestimmten moralischen Situation ein richtiges oder falsches Handeln geben wird, auch wenn ich vielleicht nicht weiß, worin dies besteht?“ Es bedeutet Ersteres. Das Letztere ist eine Bestätigung der Objektivität moralischer Pflichten.
  2. Worin genau BESTEHT diese berechtigterweise basale Überzeugung, die Ihnen erlaubt, Prämisse #2 zu bestätigen? Es wird mannigfaltige Überzeugungen geben, welche Prämisse (2) implizieren: „Es ist falsch, ein Baby aus Spaß zu quälen“. „Es ist falsch, Afrikaner zu kidnappen und als Sklaven zu gebrauchen“. „Die Spanische Inquisition war falsch“ usw. Dies sind Beispiel aus der angewandten Ethik von Überzeugungen, die kraftvoll auf moralischen Erfahrungen gegründet sind und durch sie gerechtfertigt werden.

Zu behaupten, dass diese Überzeugungen berechtigterweise basal seien, bedeutet nicht, zu behaupten, sie seien nicht widerlegbar. Aber ohne eine Widerlegung bin ich rational, wenn ich sie vertrete. Zweifellos habe ich, wie die Sklavenhändler der Vergangenheit, einige moralische Überzeugungen, die falsch sind. Wir alle besitzen moralisch blinde Flecken. Das gibt Raum für moralisches Wachstum. Aber es liegen Welten zwischen dem demütigen Anerkennen meiner Fehlbarkeit und der Annahme, dass keine meiner moralischen Überzeugungen wahr ist.

(Übers.: B. Currlin)

Link to the original article in English: https://www.reasonablefaith.org/writings/question-answer/warrant-for-the-moral-arguments-second-premiss

- William Lane Craig