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#629 Gottes Gerechtigkeit und Liebe

July 21, 2019
F

Sehr geehrter Prof. Craig,

ich höre manchmal Äußerungen wie „Gott ist uns nichts schuldig“ oder „Gott hätte Jesus nicht auf die Erde schicken müssen; er könnte uns alle in die Hölle werfen und wäre trotzdem gerecht.“ Mir ist das immer schon verdächtig vorgekommen. Ich weiß natürlich, dass wir Gottes Gnade nicht verdient haben, aber diese Sätze klingen mir so, als ob ein Vater sagt: „Ich schulde meinen Kindern nichts. Sie haben mir nicht gehorcht, folglich muss ich nicht mehr für sie sorgen.“ Ich finde die Vorstellung, dass Gott uns nicht mehr lieben muss, weil wir doch Sünder sind, grundfalsch. Hier könnte man einwenden, dass das gerecht ist, aber halt nicht gnädig oder barmherzig. Das könnte stimmen, aber andererseits: Würde Gott jemanden, der unbarmherzig ist, „gerecht“ nennen? Oder sehe ich das falsch?

Daniel

Afghanistan

Prof. Craigs Antwort


A

Mir scheint, Daniel, dass Sie nicht genügend scharf zwischen Gottes Gerechtigkeit und seiner Liebe trennen. Wenn Sie der Aussage des Neuen Testaments zustimmen, dass wir Sünder sind, die keine Gnade verdient haben, und dass unsere Erlösung mithin allein auf Gottes Gnade beruht (Epheser 2,8-9), müssen Sie es auch unterschreiben, dass Gott dann, wenn er jedem das gäbe, was er verdient hat, vollkommen gerecht wäre. Gottes Gerechtigkeit erfordert es nicht, dass er unsere Sünden vergibt, sondern im Gegenteil, dass er sie bestraft. Es stimmt also: „Er könnte uns alle in die Hölle werfen (d. h. uns geben, was wir verdient haben) und wäre trotzdem gerecht.“

Aber Gott ist nicht nur gerecht, er liebt uns auch. „Gott ist Liebe“ (1. Johannes 4,8). Und daher ist „die Vorstellung, dass Gott uns nicht mehr lieben muss, weil wir doch Sünder sind“, in der Tat „grundfalsch.“ Gottes Wesen ist Liebe; er kann gar nicht anders, als uns zu lieben. (Hier ist übrigens ein himmelweiter Unterschied zwischen dem Gott der Bibel und dem Gott des Korans. Im Islam ist Allah vor allem anderen der Allmächtige, der tun und lassen kann, was er will, und wenn er in der letzten Minute alle treuen Muslime in die Hölle schicken würde!)

Sie antworten auf diese Unterscheidung mit dem Satz: „Das könnte stimmen, aber andererseits: Würde Gott jemanden, der unbarmherzig ist, ‚gerecht‘ nennen?“ Wenn wir mit „gerecht“ rein die vergeltende Gerechtigkeit meinen, ist die Antwort „ja“. In der Rechtsphilosophie ist dieses Problem als das Dilemma des gnädigen Richters bekannt. Ein Richter hat Recht zu sprechen, egal, was seine persönlichen Gefühle gegenüber dem Angeklagten sind. Das Gesetz erlaubt ihm gewisse Spielräume beim Strafmaß, aber wenn er vor lauter Mitleid das Gesetz missachtet, handelt er ungerecht. Dieses Dilemma hat wichtige Implikationen für die Versöhnungslehre und die Befriedigung der göttlichen Gerechtigkeit (vgl. mein Buch The Atonement, Cambridge University Press 2018).

Andererseits muss man hier beachten, dass in der Bibel Gottes Gerechtigkeit (hebräisch sedek, griechisch dikaiosynē) wesentlich mehr umfasst als vergeltende Gerechtigkeit. Sie umfasst das ganze moralische Wesen Gottes, sodass sie nicht nur verurteilend, sondern auch rettend ist. In diesem weiteren Sinne von „gerecht“ ist jemand, der mitleidlos ist, definitiv nicht gerecht.

Die Erkenntnis, dass wir von Gott eigentlich nichts als Verdammnis verdient haben, kann uns helfen, zutiefst dankbar zu werden für Gottes ungeheure Gnade und Liebe, die selbst mich Sünder erreicht.

(Übers.: Dr. F. Lux)

Link to the original article in English: https://www.reasonablefaith.org/writings/question-answer/on-gods-justice-and-love/

- William Lane Craig