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#630 Nicht genügend Beweise, um zu glauben?

July 21, 2019
F

Sehr geehrter Prof. Craig,

ich kenne zwei Antworten von Ihnen auf das Problem der Verborgenheit Gottes. Ich möchte zu jeder von ihnen eine Gegenposition formulieren und Sie bitten, dazu Stellung zu nehmen.

1) Theist: „Gott möchte eine freiwillig eingegangene Beziehung; er will sich niemandem aufzwingen.“

Gegenposition: Seine eigene Existenz zu demonstrieren, ist keine Verletzung des freien Willens.

  1. Wenn Sie jemanden lieben und eine Beziehung zu ihm wünschen, fangen Sie damit an, dass Sie sich ihm vorstellen. Dies macht Ihre Existenz zu 100 % deutlich. Doch niemand würde dies als eine Verletzung seines freien Willens bezeichnen! Im Gegenteil: Es ist eine Bejahung des freien Willens, denn niemand kann sich dafür entscheiden, eine Beziehung einzugehen, solange er nicht weiß, dass die andere Person existiert.
  2. Gott könnte leicht das Gleiche tun. Er könnte sich jedem von uns persönlich vorstellen, sodass kein Zweifel möglich ist, dass er existiert. Dies würde unseren freien Willen nicht verletzen. Und anschließend könnten wir uns frei entscheiden, ob wir eine Beziehung zu ihm aufnehmen oder nicht.

2) Theist: „Es kann gut sein, dass selbst dann, wenn Gott sich deutlicher offenbarte, nicht mehr Menschen gerettet würden als unter den jetzigen Bedingungen.“

Gegenposition: Dies ist nicht die Art und Weise, wie menschlicher Glaube in Bezug auf die Evidenzlage funktioniert.

  1. Wir wissen, wie menschlicher Glaube in Bezug auf die Evidenzlage funktioniert.
  2. In dem Maße, wie die Evidenz umfangreicher und qualitativ besser wird, glauben die Menschen eher an eine bestimmte Proposition X.
  3. Jeder kann eine unterschiedliche „Evidenzschwelle“ für den Glauben an X haben, aber in dem Maße, wie Quantität und Qualität steigen, wird diese Schwelle irgendwann überschritten.
  4. Ich persönlich kann ehrlich sagen, dass ich, hätte ich mehr bzw. bessere Beweise, gerne ein überzeugter Christ werden würde. Ich würde wirklich gerne an Gott glauben und bin ernsthaft auf der Suche, habe aber große Schwierigkeiten, weil die Evidenzlage mir nicht sehr zwingend erscheint.
  5. Ich bin nur ein Mensch unter vielen, aber überlegen Sie einmal den kumulativen Effekt, den dies für alle Menschen aller Zeiten hätte. Es könnte so viel Gutes bewirken und dazu führen, dass viel mehr Menschen gerettet werden, wenn Gott sich deutlicher offenbarte.

Noch einmal: Mehr Beweise (ja, eine überwältigende Zahl von Beweisen) für Gottes Existenz würden keine Verletzung des freien Willens bedeuten. (Siehe das erste Argument.)

Peter

United States

Prof. Craigs Antwort


A

Ich habe volles Verständnis für Ihr Problem, Peter, aber wenn Sie schreiben: „Ich würde wirklich gerne an Gott glauben und bin ernsthaft auf der Suche, habe aber große Schwierigkeiten, weil die Evidenzlage mir nicht sehr zwingend erscheint“, macht mich das schon etwas argwöhnisch. Entweder Sie kennen die Evidenzlage nicht vollständig (haben Sie z. B. die Argumente in Reasonable Faith studiert?) oder es liegt hier auf der psychologischen Ebene deutlich mehr vor, als Sie sagen oder vielleicht auch wissen. Mag sein, dass die Evidenzlage nicht zwingend ist, aber ich sehe nicht, wie ein informierter Mensch, der ehrlich Christ werden möchte, auf die Idee kommen kann, die Beweise seien unzureichend für eine Bekehrung zum christlichen Glauben. Ich habe den Eindruck, dass es tiefere seelische Barrieren gibt, die Sie daran hindern, den Schritt zu tun. Wenn das stimmt, dann würden womöglich auch mehr Beweise nichts nützen. Ich empfehle Ihnen, einmal ehrlich in sich zu gehen und vielleicht auch mit einem gläubigen Freund zu sprechen, um herauszufinden, was Sie wirklich davon abhält, den Schritt zu Christus zu tun.

Aber jetzt zu meinen beiden angeblichen Argumenten. Ich finde es wichtig, dass wir uns darüber klar werden, was ich sage und nicht sage.

1. „Gott möchte eine freiwillig eingegangene Beziehung; er will sich niemandem aufzwingen.“ Wogegen ich mich hier wende, ist eine Selbstoffenbarung Gottes, die so attraktiv ist, dass sie unwiderstehlich ist. Das wäre so etwas wie die sogenannte visio beatifica, die die Seligan im Himmel bekommen. Und Sie haben recht: Wenn Gott seine Existenz so unleugbar machen würde wie die Nase in Ihrem Gesicht, wäre das keine Verletzung des freien Willens. Aber das Problem ist, dass selbst dies nicht garantieren würde, dass die Menschen zu einem rettenden Glauben kommen. (Denken Sie nur an die Israeliten während des Exodus!) Ich stimme also zu, dass selbst dann, wenn Gott sich jedem von uns auf eine Weise vorstellen würde, dass kein Zweifel an seiner Existenz möglich wäre, „dies unseren freien Willen nicht verletzen würde. Und anschließend könnten wir uns frei entscheiden, ob wir eine Beziehung zu ihm aufnehmen oder nicht.“ Ich sage lediglich, dass Gott selbst durch eine Selbstoffenbarung, die unwiderstehlich ist, niemanden zwingen kann, an ihn zu glauben.

2. „Es kann gut sein, dass selbst dann, wenn Gott sich deutlicher offenbarte, nicht mehr Menschen gerettet würden als unter den jetzigen Bedingungen.“ Stimmt genau! Überlegen Sie mal: Gott will, dass alle gerettet werden. Folglich wird, soweit dies möglich ist, Gott niemanden verloren gehen lassen, wenn er weiß, dass mehr Beweise zu einem freiwilligen „Ja“ dieser Person zu ihm führen würden. Und er wird in seiner Vorsehung die Welt so einrichten, dass jeder, der ihn nicht als Erlöser annimmt, auch dann nicht an ihn geglaubt hätte, wenn er mehr Beweise bekommen hätte. Gut, mehr Evidenz könnte einen solchen Menschen davon überzeugen, dass Gott existiert. Aber das ist keine große Sache. Worauf es ankommt, ist rettender Glaube. Und es kann durchaus sein, dass ein liebender Gott niemandem die Beweise vorenthalten würde, die ausreichen würden, ihn zu einem rettenden Glauben zu bringen. Jeder, der nicht zu einem rettenden Glauben kommt, wäre also auch dann nicht dazu gekommen, wenn er mehr Evidenz gehabt hätte.

In Ihrer Gegenposition verschmelzen Sie den rettenden Glauben mit dem Glauben an die Existenz Gottes und sagen: „In dem Maße, wie die Evidenz umfangreicher und qualitativ besser wird, glauben die Menschen eher an eine bestimmte Proposition X.“ Aber, Peter, an Gott glauben ist nicht dasselbe wie an eine Proposition glauben! Wir reden hier über eine Beziehung der Liebe und des Vertrauens, und nicht darüber, dass jemand zum Glauben kommt, dass p zutrifft (wobei p eine Proposition ist). Sie fahren fort: „Jeder kann eine unterschiedliche „Evidenzschwelle“ für den Glauben an X haben, aber in dem Maße, wie Quantität und Qualität steigen, wird diese Schwelle irgendwann überschritten.“ Ich sehe überhaupt keinen Grund zur Annahme, dass diese Behauptung stimmt. Viele Atheisten haben gesagt (zum Teil im persönlichen Gespräch mit mir), dass sie selbst dann, wenn sie wüssten, dass Gott existiert, nicht an ihn glauben würden. Dem stellen Sie Ihre persönliche Befindlichkeit gegenüber: „Ich persönlich kann ehrlich sagen, dass ich, hätte ich mehr bzw. bessere Beweise, gerne ein überzeugter Christ werden würde.“ Ich bin von der Wahrheit dieser Behauptung nicht überzeugter als von dem, was die Atheisten behaupten. Wenn Sie Ihrer Selbstanalyse glauben, warum dann nicht auch der der Atheisten? Ich glaube, dass die Wurzeln für unsere Entscheidungen so tief reichen, dass wir jegliche Behauptungen, was jemand tun würde, wenn er mehr Beweise für Gott hätte, mit Vorsicht genießen müssen. Ich bin überzeugt, dass Gott die Wahrheit kennt (ich bin ein Molinist), aber wir Menschen kennen sie nicht. Ich glaube also nicht, dass wir wirklich „wissen, wie menschlicher Glaube in Bezug auf die Evidenzlage funktioniert“. Was wir wissen, ist, dass die Leute ihre Entscheidungen aus allen möglichen nichtrationalen Gründen treffen, die nichts mit der Evidenzlage zu tun haben.

Aber nehmen wir einmal ein, Sie vertrauen sowohl Ihrer eigenen Selbstanalyse als auch der der Atheisten. Daraus würde lediglich folgen, dass Sie irgendwann zum Glauben kommen werden. Gott wird Ihnen die Evidenz, die ausreichend für einen Glauben an ihn ist, nicht vorenthalten. Das sollte Ihnen ein Stück Hoffnung für die Zukunft geben, Peter. Suchen Sie weiter; studieren Sie die Evidenzlage genauer; Sie sollten sie mehr als ausreichend für einen fundierten Glauben finden.

(Übers.: Dr. F. Lux)

Link to the original article in English: www.reasonablefaith.org/writings/question-answer/not-enough-evidence-to-believe

- William Lane Craig