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#624 Göttliche Offenbarung und religiöser Pluralismus

July 21, 2019
F

Sehr geehrter Prof. Craig,

ich bin einer Ihrer Leser aus Indien. Ich finde Ihre Arbeit toll. Ich bin ein Mittelding zwischen einem Agnostiker und einem Gläubigen (falls es so etwas gibt). Ihre Argumente bezüglich der natürlichen Theologie machen mir einen sehr zwingenden Eindruck. Aber wenn es um die Exklusivität des Christentums geht, muss ich an Folgendes denken: Die Existenz Christi und seine Auferstehung kann man aufgrund der historischen Wahrscheinlichkeit durchaus für wahr halten, aber Wunder tun auch die indischen Gurus und Götter in meiner Heimat.

Jemand mit meinem kulturellen Hintergrund kann da zu folgender Hypothese kommen: „Niemand kennt Gott wirklich; er ist niemandem wirklich offenbar. Es gibt Wunder, die uns seine Existenz bzw. die Existenz des Übernatürlichen zeigen. Aber Gott hat verschiedenen Menschen unterschiedliche theologische Modelle offenbart (die einander oft widersprechen), um ihren Gehorsam zu testen.“

Ich glaube, eine Methode, um herauszufinden, ob das Letztere plausibel ist, besteht darin, zu prüfen, ob Gott im Rahmen der natürlichen Theologie so etwas tun kann. Ich glaube, hier sollte man das Moral-Argument benutzen. Finden Sie es unmoralisch, wenn Gott verschiedenen Menschen unterschiedliche Wahrheiten offenbart? Zwischen vielen christlichen Denominationen gibt es ja Unterschiede im Glauben, und viele führen ihren Glauben auf eine Offenbarung Gottes zurück. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie meine Frage einer Antwort für wert halten oder sie anderweitig beantworten würden. Vielen Dank.

Moti

India

Prof. Craigs Antwort


A

Zuerst dachte ich, Moti, dass Ihre Frage den alten Einwand von David Hume aufwärmt, dass alle Religionen ihre Wunder haben, sodass sie sich gegenseitig annullieren. (Diesen Einwand behandele ich in meinem Buch Reasonable Faith in dem Kapitel über Wunder.) Aber dann nimmt Ihre Frage plötzlich die Kurve in Richtung religiöser Pluralismus, und hier sollten Sie sich anschauen, was ich zu diesem Thema geschrieben habe: www.reasonablefaith.org/writings/popular-writings/christ/how-can-christ-be-the-only-way-to-god

Ihr Argument ist nicht, dass jede Religion ihre Scheinwunder hat, sondern dass Gott in ganz verschiedenen religiösen Traditionen tatsächlich Wunder getan hat, damit die Menschen diesen Traditionen folgen. Hier ist nicht klar, wer oder was mit „Gott“ gemeint ist. Der christliche Gott? Hat er also in Indien Wunder getan, damit die Menschen dort (fälschlicherweise) glauben, dass der Hinduismus wahr ist? Das ist schwer vorstellbar, würde es doch bedeuten, dass (da Vergebung der Sünden und ewiges Leben nur durch den Sühnetod Christi möglich sind) Gott diese Menschen absichtlich in die Irre und die Hölle führt, was unvereinbar mit dem Wesen Gottes wäre, der doch will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen (1. Timotheus 2,3).

Wenn aber nicht der Christengott gemeint ist, welcher Gott ist es dann? Der des religiösen Pluralismus? Auch das kann nicht stimmen, denn dieser Gott ist eine eigenschaftslose Absolutheit, die keine Person ist und mithin auch keine Wunder tut.

Wie wäre es mit dem Gott des Islam? Allah wird dort als großer Betrüger gepriesen, was ja passen würde. Aber sollen wir etwa glauben, dass (entgegen der Aussage des Korans) Allah Jesus von den Toten auferweckt und damit Hunderte Millionen Menschen der christlichen Religion zugeführt hat, zur Schmach und Schande des Islam? Kein guter Muslim könnte das akzeptieren.

Also noch einmal: Wer soll dieser Gott sein? Ich sehe absolut keinen Grund zu der Annahme, dass ein Wesen, wie Sie es da beschreiben, existiert. Wie sie ganz richtig sehen, ist solch ein Gott unvereinbar mit den Argumenten der natürlichen Theologie – und zwar nicht nur mit dem Moral-Argument, sondern auch mit dem ontologischen Argument. Nein, es ist nicht unmoralisch, wenn Gott verschiedenen Menschen unterschiedliche Wahrheiten offenbart. Gott hat den Juden im Alten Testament andere Wahrheiten offenbart als den Christen im Neuen Testament. Aber aufgepasst: Es sind in beiden Fällen Wahrheiten! Was Gott dagegen nicht tun kann, ist, dass er verschiedenen Menschen Wahrheiten offenbart, die einander widersprechen, denn das würde bedeuten, dass Gott den meisten Menschen nicht Wahrheiten, sondern Lügen offenbart, womit er ein Betrüger wäre.

Was schließlich die verschiedenen christlichen Denominationen betrifft, so hat Gott hier nicht verschiedenen Menschen unterschiedliche Wahrheiten offenbart, sondern verschiedene Menschen deuten die von Gott in der Bibel offenbarten Wahrheiten unterschiedlich.

(Übers.: Dr. F. Lux)

Link to the original article in English: www.reasonablefaith.org/writings/questions-answer/divine-revelation-and-religious-pluralism

- William Lane Craig