Scheitern
Summary
Persönliche Gedanken darüber, wie Gott Erfahrungen des Scheiterns in Ihrem Leben gebrauchen kann.
Ich bin seit über dreißig Jahren Christ. Ich schätze, dass ich in meiner christlichen Lebenszeit mindestens mehrere tausend Gottesdienste, hunderte Andachten am Wheaton College und Dutzende christlicher Veranstaltungen bei Freizeiten, Konferenzen und so weiter besucht habe, die von Campus für Christus und anderen Gruppen gehalten wurden. Doch in dieser ganzen Zeit habe ich nie – nicht ein einziges Mal in den tausenden Treffen in über dreißig Jahren – gehört, dass ein Sprecher das Thema des Scheiterns aufgegriffen hätte. In der Tat hätte auch ich selbst wahrscheinlich nicht ernsthaft über das Thema nachgedacht, wäre da nicht ein niederschmetterndes Versagen gewesen, das mich veranlasst hat, mich persönlich mit diesem Problem auseinanderzusetzen.
Die mangelnde Erörterung dieses Themas durch christliche Referenten ist nicht darauf zurückzuführen, dass das Thema nicht besonders wichtig wäre. Jeder Christ, der irgendwann versagt hat, weiß, wie bedrückend diese Erfahrung sein kann und welche Fragen sie aufwirft: Wo ist Gott? Wie konnte er das zulassen? Bin ich nicht mehr in seinem Willen? Was soll ich jetzt tun? Kümmert es Gott wirklich oder existiert er überhaupt? Das sind quälende Fragen. Was bedeutet das Scheitern für einen Christen?
Mir scheint, dass wir bei der Auseinandersetzung mit diesem Problem zunächst zwei Arten des Scheiterns unterscheiden müssen: das Scheitern im christlichen Leben und das Scheitern im Leben eines Christen. Mit dem Scheitern im christlichen Leben meine ich ein Versagen in der Beziehung eines Gläubigen mit Gott und in seiner Nachfolge. Christen könnten zum Beispiel eine Enttäuschung und ein Scheitern erleben, weil sie sich weigern, auf Gottes Ruf zu antworten, oder weil sie einer Versuchung nachgeben oder wenn sie einen nichtchristlichen Partner heiraten. Ein Scheitern dieser Art beruht auf Sünde. Es ist im Wesentlichen ein geistliches Problem, eine Frage des moralischen und geistlichen Versagens.
Im Gegensatz dazu hat das Scheitern im Leben eines Christen nichts mit geistlichen Belangen zu tun. Es beruht nicht auf Sünde im Leben eines Gläubigen. Es ist einfach eine Niederlage, die ein Mensch, der in diesem Fall ein Christ ist, in seinem alltäglichen Leben erleidet. Es könnte zum Beispiel sein, dass ein christlicher Geschäftsmann in Konkurs geht, dass sich der Jugendtraum eines christlichen Sportlers zerschlägt, weil er nicht in eine der führenden Ligen aufsteigt, dass ein christlicher Student den Abschluss nicht schafft, obwohl er alles für den Erfolg getan hat, oder dass ein christlicher Handwerker arbeitslos wird und keine Stelle mehr finden kann. In solchen Fällen handelt es sich nicht um Beispiele für ein Versagen im Leben der Person mit Gott, sondern um Beispiele für ein Scheitern im gewöhnlichen Lauf des Lebens, die hier nun zufällig im Leben von Menschen vorkommen, die Christen sind.
In seinem Bestseller Failure: The Back Door to Success [1] beschäftigt sich Erwin Lutzer mit der Unterscheidung, die ich hier zu treffen versuche. Er sieht die Ursache für das Versagen im christlichen Leben in der Begierde des Fleisches (sexuelle Befriedigung), im Stolz des Lebens (Egoismus) oder in der Lust der Augen (Habgier). Fehlschläge im Leben eines Christen, die nicht mit diesen Gründen zu tun haben, gehören einfach zum Leben dazu. Lutzer sieht keine besonderen Schwierigkeiten in der zweiten Art des Scheiterns, aber die erste Art des Scheiterns findet er problematisch. Er schreibt:
"Was sind die Gründe für das Scheitern? Was führt dazu, dass ein Mensch an das Ende seines Lebens gelangt und gesteht, dass er umsonst gelebt hat? Was bewegt einen Menschen dazu, Selbstmord zu begehen, weil er nicht so begabt ist wie andere? ... Was veranlasst einen Mann, sein christliches Zeugnis zu gefährden und eine Affäre mit der Frau seines Nachbarn zu beginnen? Die Antwort: Sünde – insbesondere Stolz, Habgier oder sinnliche Begierde.
Natürlich gibt es Erfahrungen des Scheiterns, die kaum etwas mit sündigen Beweggründen zu tun haben: Ein Schüler scheitert vielleicht in der Schule, oder ein Mann macht eine unkluge Investition. Viele Menschen sind in ihrem Beruf gescheitert oder haben einfach ihre Ziele nicht erreicht. Wir sollten diese Art von Fehlschlägen nicht gering achten, aber langfristig sind sie nicht so gravierend wie geistliches Versagen." [2]
Lutzer widmet sein ganzes Buch dem Scheitern im christlichen Leben, dem Scheitern der ersten Art, weil er denkt, dass diese Art des Scheiterns ernstere Folgen hat als die zweite Art des Scheiterns. In einer Hinsicht ist das wahr: Für ein Versagen aufgrund von Sünde ist man moralisch schuldig. Das Versagen im christlichen Leben bricht unsere Beziehung zu Gott und hat ewige Konsequenzen. Wir müssen Gott diese Art des Versagens bekennen; sonst werden wir dafür zur Rechenschaft gezogen und verurteilt. Im endgültigen Sinn sind die Konsequenzen des Scheiterns im christlichen Leben viel ernster als die gewöhnlichen Fehlschläge, die in unserem Leben auftreten.
Andererseits trifft es aber angesichts der alltäglichen Konsequenzen in der Welt, in der wir leben, nicht immer zu, dass die erste Art des Scheiterns die schlimmeren Folgen hat. Denn wenn wir nicht wissen, wie wir richtig damit umgehen, kann das Scheitern im Leben eines Christen sogar noch verheerender sein als ein Versagen, das konkret durch unsere Sünde bedingt ist.
Nun habe ich keine besonderen Schwierigkeiten, das Scheitern im christlichen Leben zu verstehen. Natürlich führt Sünde zum Scheitern! Was sollten wir anderes erwarten? Auch die Lösung für diese Art des Scheiterns ist nicht schwer zu verstehen: Reue, Bekenntnis, Glauben und Gehorsam. Das Scheitern im christlichen Leben finde ich also nicht verwirrend, besonders wenn ich an die Schwachheit meiner eigenen fleischlichen Gesinnung denke. Es ist nicht überraschend, dass wir sündigen und versagen.
Aber die zweite Art des Scheiterns finde ich problematisch. Wenn jemand im Glauben lebt und dem Herrn gehorsam ist, wie kann er in die Grube des Scheiterns geführt werden? Denken Sie darüber nach. Wie kann ein Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes zum Scheitern führen? Das ist in der Tat verwirrend. Deshalb möchte ich unsere Aufmerksamkeit auf diese zweite Art des Scheiterns lenken, das Scheitern im Leben eines Christen, um zu sehen, ob wir es verstehen können.
Jahrelang war ich der Ansicht, dass Christen, die nach Gottes Willen leben, eigentlich nicht scheitern können. Vielleicht war ich entsetzlich naiv, aber das glaube ich eigentlich nicht. Ich hatte ernsthaft über diese Frage nachgedacht und meine Position sogar an mehreren wichtigen Punkten modifiziert. So unterschied ich zum Beispiel zwischen Scheitern und Verfolgung. Die Bibel zeigt klar, dass Menschen, die ein wahrhaft gottgefälliges Leben in Christus Jesus zu führen versuchen, Verfolgung erleiden werden, und Jesus sagte, dass sie dafür Segen empfangen werden. Christen, die in Konzentrationslagern für ihren Glauben gestorben sind oder die ihre Arbeitsstelle verloren haben oder diskriminiert wurden, weil sie Christen waren, kann man nicht wirklich als gescheitert bezeichnen.
Ich unterschied auch zwischen Scheitern und Anfechtungen. Die Bibel zeigt klar, dass wir als Christen nicht vor Anfechtungen verschont bleiben und dass solche Bewährungsproben zu Reife und Ausdauer führen. Ohne Anfechtungen würden wir verweichlichte und verwöhnte Kinder bleiben. Aber ich glaubte, dass Gott, wenn wir im Vertrauen auf seine Kraft unsere Anfechtungen durchstehen, uns hindurchtragen wird, sodass wir am Ende siegreich daraus hervorgehen werden. Im Grunde ergab es für mich keinen Sinn zu sagen, dass Gott eine Person zu etwas berufen würde und sie dann – wenn diese Person dem Ruf folgt und sich auf Gottes Kraft verlässt – scheitern lassen würde.
Und es gibt tatsächlich einige biblische Belege für die Auffassung, die ich hatte. Betrachten Sie zum Beispiel, was in Psalm 1,1-3 steht:
Glücklich der Mann, der nicht folgt dem Rat der Gottlosen,
den Weg der Sünder nicht betritt
und nicht im Kreis der Spötter sitzt,
sondern seine Lust hat am Gesetz des HERRN
und über sein Gesetz sinnt Tag und Nacht!
Er ist wie ein Baum, gepflanzt an Wasserbächen,
der seine Frucht bringt zu seiner Zeit,
und dessen Laub nicht verwelkt;
alles was er tut, gelingt ihm.
Was könnte klarer sein? Alles, was er tut, gelingt ihm! Aber dann erlebte ich ein katastrophales persönliches Scheitern, das mich zwang, diese ganze Frage zu überdenken. Es geschah, als meine Frau Jan und ich in Westdeutschland lebten und ich gerade bei dem berühmten Theologen Wolfhart Pannenberg meine Doktorarbeit in Theologie an der Universität von München abschloss. Meine Dissertation war bereits angenommen worden und es fehlte nur noch die mündliche Prüfung in Theologie (ominöserweise auch Rigorosum genannt). Da ich nicht wusste, was mich erwartete, versuchte ich wiederholt, einen Termin bei Pannenberg zu bekommen, um über die Prüfung zu sprechen und zu erfahren, wie ich mich darauf vorbereiten konnte. Aber es gelang mir nie, ihn zu treffen (deutsche Professoren sind meist viel zurückgezogener als ihre amerikanischen Kollegen). Also suchte ich seinen Lehrassistenten auf, einen brillanten jungen Theologen, der unter Pannenberg promoviert hatte. Er verwarf den Gedanken, sich auf die Prüfung vorzubereiten. „Vergessen Sie das!“, riet er. Nun, so dumm war ich nicht, also hakte ich nach, um einen Hinweis zu bekommen, was ich zur Vorbereitung tun konnte. „Pannenberg stellt immer nur Fragen zu seinen eigenen Veröffentlichungen“, antwortete er. „Lesen Sie einfach, was er geschrieben hat.“
Das schien mir eine gute Strategie zu sein, und so las und studierte ich in den folgenden Wochen buchstäblich alles, was Pannenberg je geschrieben hatte. Ich war mir sicher, dass ich mich in seinem theologischen Denken auskannte.
Am Tag der Prüfung betrat ich Pannenbergs Büro. Er würde die Prüfung selbst durchführen und der Ablauf sollte durch den Dekan der theologischen Fakultät und einen anderen Theologieprofessor protokolliert werden, die den Beisitz führten. Wir schüttelten einander die Hände und nahmen Platz, um mit der Befragung zu beginnen.
Fast augenblicklich ging alles schief. Pannenberg fing an, Fragen zu Themen zu stellen, die er in seinen Schriften nicht erörterte. Er begann, nach den Besonderheiten in der Theologie dieses oder jenes Verfassers zu fragen. Und ich konnte die Fragen nicht beantworten. Wieder und wieder musste ich meine Unwissenheit bekennen. Ich kann Ihnen gar nicht schildern, wie hilflos ich mich fühlte und welche Angst mich erfasste. Frage für Frage wurde mir klarer, wie das Doktorat vor meinen Augen den Bach hinunter ging und dass ich – wie bei dem Versuch, Sand festzuhalten, der einem durch die Finger rieselt – nichts tun konnte, um es zu verhindern. Diese Tortur zog sich fast eine ganze Stunde hin. Gegen Ende der Prüfungsstunde, als wolle er auch die letzten Zweifel an meinem Versagen ausräumen, stellte Pannenberg einige herablassend einfache Fragen, so als würde er sich auf meinen Wissensstand einstellen. Meine Demütigung war komplett.
Niedergeschlagen verließ ich die theologische Fakultät, um Jan zu treffen, denn wir wollten zur Feier der Promotion in ein Restaurant gehen. Sie lief mir entgegen, lächelnd und mit erwartungsvollem Blick. „Schatz – ich bin durchgefallen“, sagte ich. Sie konnte es nicht glauben. Es war kurz vor Weihnachten, und am 23. Dezember wollten wir in die Vereinigten Staaten zurückfliegen, um meine Familie zu besuchen, bevor ich nach Neujahr meine Stelle als Professor an der Trinity Evangelical Divinity School von Deerfield in Illinois antreten würde. Nun kehrten wir mit einer Niederlage zurück. Und zu allem Übel kam der Lufthansa auf dem Rückflug unsere IBM-Schreibmaschine abhanden, Jans Handtasche wurde gestohlen, in der sie ihre wertvollsten persönlichen Sachen verstaut hatte, und ich verlor beide Kontaktlinsen!
Aber diese materiellen Verluste waren nichts im Vergleich zu dem Aufruhr, den ich innerlich empfand, weil ich mein Doktorat verpasst hatte. Ich konnte einfach nicht verstehen, wie Gott das zulassen konnte. Er hatte uns nach Deutschland berufen und uns auf wunderbare Weise mit den nötigen Finanzen für mein Studium versorgt. Wir befanden uns in seinem Willen; dessen war ich mir sicher. Ich war nicht nachlässig oder zu selbstsicher gewesen. Ich hatte im Voraus oft versucht, mit Pannenberg zu sprechen, aber er war immer zu beschäftigt gewesen, um Zeit für mich zu haben; deshalb hatte ich mich so vorbereitet, wie es mir am besten schien. Doch vor allem hatten wir ernsthaft und treu für diese Prüfung gebetet und es gab andere Menschen – geisterfüllte Christen in den Vereinigten Staaten –, die ebenfalls dafür beteten. Die Prüfung war absolut fair gewesen, das konnte ich nicht bestreiten. Ich hatte bei der Prüfung schlicht und einfach versagt. Aber wie konnte Gott das zulassen? Wo waren seine Verheißungen geblieben? „Alles, was er tut, gelingt ihm.“ „Was immer ihr in meinem Namen bitten werdet...“
Es war nicht nur die gescheiterte Prüfung, die mir zu schaffen machte. Schlimmer war, dass mein Scheitern für mich eine geistliche Glaubenskrise war. Ich fühlte mich verletzt und blamiert, aber vor allem fühlte ich mich von Gott verraten. Wie sollte ich ihm je wieder vertrauen?
Während ich in den folgenden Tagen meine Gefühle aufzuarbeiten versuchte, wurde mir klar, dass Psalm 1,1-3 einfach nicht als eine Art Blankozusage verstanden werden kann, die jede Situation abdeckt. Christen gelingt nicht immer alles, was sie anpacken. Manchmal scheitern sie eben, und das ist einfach eine Tatsache.
Nun könnte jemand sagen: „Sie dürfen nicht aufgrund menschlicher Erfahrungen Gottes Wort aufheben! Seine Verheißungen sind unabhängig von Ihrer Erfahrung gültig.“ Aber das Problem bei dieser Antwort ist, dass die Bibel selbst Beispiele für solche Fehlschläge nennt. Gott hatte zum Beispiel versprochen, den zwölf Stämmen Israels das Land Kanaan zu geben. Doch in Richter 1,19 lesen wir: „Und der Herr war mit Juda, und er nahm das Gebirge in Besitz. Aber die Bewohner der Ebene waren nicht zu vertreiben, weil sie eiserne Wagen hatten.“ Sehen Sie, was hier steht: Der Herr war mit Juda – aber trotz dieser Tatsache, obwohl sie das Gebirge eroberten, scheiterten sie gegen ihre Feinde in der Ebene, weil diese eiserne Wagen hatten! Das scheint keinen Sinn zu ergeben: Gott war mit ihnen, aber sie scheiterten trotzdem. Wie sind solche Fehlschläge im Leben der Gläubigen zu verstehen?
Nun würden manche Leute diese Frage mit der Behauptung beantworten, dass Gott keinen speziellen Willen für unser Leben hat. Gottes Wille ist sein allgemeiner Wunsch, dass wir seine ethischen und geistlichen Gebote befolgen, dass wir einen Christus ähnlichen Charakter entwickeln, und so weiter. Aber er hat keinen speziellen Willen für einzelne Personen, wie etwa, dass sie ein Doktorat erlangen, eine bestimmte Person heiraten oder einen besonderen geschäftlichen Vertrag abschließen. Wenn wir also solche Dinge unternehmen, tun wir das völlig aus eigener Initiative und können durchaus dabei scheitern.
Aber diese Lösung halte ich für inadäquat, obwohl sie offenbar so vielen Menschen schlüssig erscheint. Zuallererst enthält sie ein falsches Verständnis von Gottes Souveränität, Vorsehung und Führung. Obwohl die Bibel die Freiheit des Menschen lehrt, betont sie auch nachdrücklich die souveräne Herrschaft Gottes und seine gütige und weise Lenkung all dessen, was geschieht. Nichts in der Welt geschieht, ohne dass Gott es entweder direkt beabsichtigt oder es – im Fall von sündigen Taten – zumindest zulässt. Außerdem hat Gott in seiner Vorsehung die Welt so geordnet, dass seine Absichten durch das, was wir zu tun beschließen, erfüllt werden. Unsere Entscheidungen können ihm also nicht gleichgültig sein. Außerdem hat er versprochen, uns bei unseren Entscheidungen zu leiten. All das deutet darauf hin, dass Gott einen spezifischen Willen für unser Leben hat.
Doch abgesehen davon trifft diese vorgeschlagene Lösung zweitens eigentlich nicht den Kern des Problems. Denn selbst wenn Gott keinen spezifischen Willen für unser Leben haben sollte, bleibt die Tatsache bestehen, dass er versprochen hat, mit uns zu sein, um uns zu befähigen und uns zu helfen. Deshalb ist das Beispiel im Buch der Richter so irritierend. Der Herr war mit ihnen, aber trotzdem scheiterten sie. Selbst wenn Gott also keinen spezifischen Willen für unser Leben haben sollte, erklärt das immer noch nicht, wie wir bei etwas scheitern können, das wir in seiner Kraft tun wollen.
Und so kam ich zu einer, für mich, radikalen neuen Einsicht in den Willen Gottes, nämlich dass Gottes Wille für unser Leben ein Scheitern einschließen kann. Mit anderen Worten kann es Gottes Wille sein, dass Sie scheitern, und er kann Sie in das Scheitern führen! Denn es gibt Dinge, die Gott Sie durch das Scheitern lehren muss und die er Ihnen durch Erfolg nie beibringen könnte.
In meinem eigenen Fall war ich durch das Scheitern in der Doktorprüfung gezwungen, die Prioritäten meines Lebens in einem neuen Licht zu betrachten. Als wir Weihnachten zu meiner Familie zurückkehrten, brachte ich meinen Eltern die Nachricht bei, dass ich in meiner mündlichen Prüfung durchgefallen war und das Doktorat nicht erhalten hatte. Zu meinem Erstaunen erwiderte meine Mutter: „Na, und?“ Ich war sprachlos. Für mich schien es die schlimmste Katastrophe meines Lebens zu sein, aber sie zuckte nur die Achseln, als käme es überhaupt nicht darauf an. Allmählich wurde mir klar, dass es in gewisser Weise tatsächlich nicht darauf ankam und dass es Dinge im Leben gibt, die sehr viel wichtiger sind als Promotionen, Publikationen und akademischer Ruhm. Am Ende waren es die menschlichen Beziehungen, auf die es wirklich ankam – besonders die familiären Beziehungen.
Mir kam ein Wissenschaftler in den Sinn, den wir in Deutschland getroffen hatten; er war seit vielen Jahren geschieden und wünschte sich nichts mehr, als zu seiner Familie und seinem kleinen Sohn zurückzukehren. „Die erste Zeit nach unserer Hochzeit“, hatte er uns erzählt, „war ich ständig im Labor. Ich konnte an nichts anderes denken als an meine Forschung, und da war kein Platz für irgendetwas anderes oder irgendjemand sonst.“ Seine Forschung war ihm damals so wichtig erschienen. Aber nun wusste er, dass das nicht stimmte. „Ich war so dumm“, sagte er. Und auch ich erkannte nun ganz neu, welcher Segen es war, eine treue Frau zu haben, die in all den Jahren meines Studiums Opfer gebracht und mit mir zusammengearbeitet hatte, und liebevolle Eltern zu haben, die mich bedingungslos annahmen, einfach weil ich ihr Sohn war. Dieses Weihnachtsfest war der Beginn einer neuen Beziehung zu meiner Familie. Jan und ich lernten meinen Vater und meine Mutter nicht nur als Eltern kennen, sondern auch als Freunde.
Wissen Sie, ich hatte nicht verstanden, was wahren Erfolg wirklich ausmacht. Wahrer Erfolg besteht nicht darin, Wohlstand, Macht oder Ruhm zu erlangen. Wahrer Erfolg liegt auf der spirituellen Ebene oder besteht, genauer gesagt, darin, Gott besser kennen zu lernen. J. I. Packer bringt diesen Gedanken in seinem Buch Gott erkennen prägnant zum Ausdruck:
"Wir sind an den Punkt gelangt, an dem wir die Prioritäten für unser Leben richtig ordnen können und müssen. Nach gängigen christlichen Veröffentlichungen könnte man meinen, das Wichtigste für jeden wahren oder vermeintlichen Christen in der heutigen Welt sei die Einheit der Kirche oder das gesellschaftliche Zeugnis oder der Dialog mit anderen Christen und anderen Religionen oder die Widerlegung dieses oder jenes -ismus oder die Entwicklung einer christlichen Philosophie und Kultur oder was es sonst noch alles gibt. Aber auf dem Hintergrund unserer Betrachtungen erscheint die heutige Konzentration auf solche Dinge wie eine gigantische Verschwörung, um uns in die Irre zu führen. So ist es natürlich nicht; die Anliegen selbst sind echt und müssen an gegebener Stelle bewältigt werden. Aber es ist tragisch, dass darüber offenbar ein so großer Teil unserer Zeit von dem abgelenkt wird, was immer die wahre Priorität für jeden Menschen war und sein wird – nämlich Gott in Christus kennen zu lernen." [3]
Als ich diese Aussage zum ersten Mal las, machte sie mich stutzig: „die Widerlegung dieses oder jenes -ismus oder die Entwicklung einer christlichen Philosophie“. Genau darum geht es in meinem Leben! Und doch ist es nicht das Wichtigste. Man könnte darin erfolgreich sein und trotzdem in Gottes Augen ein Versager sein.
Das erinnert mich an einen Gedanken, von dem Lutzer sagt, dass er ihn als vielbeschäftigten Pastor verfolgt: „ Vielleicht bringst du gar nicht so viel zustande, wie du meinst.“ Wir können viele Dinge für den Herrn tun und es trotzdem versäumen, die Menschen zu sein, die wir nach Gottes Absicht sein sollen. Meine größte Angst ist tatsächlich, dass ich eines Tages vor dem Herrn stehe und zusehen muss, wie alle meine Werke in Rauch aufgehen, weil da so viel „Holz, Heu und Stroh“ ist. Was hat Jesus schließlich gesagt? – „Die Ersten werden Letzte und die Letzten Erste sein.“ Es ist nicht der Erfolg in den Augen der Welt, auf den es am Ende ankommt, sondern der Erfolg in den Augen des Herrn.
Nun ist dies ermutigend und überführend zugleich. Einerseits ist es ermutigend, denn selbst wenn wir scheitern, könnte das Scheitern in den Augen des Herrn der bessere Teil des Erfolges sein. Ich habe so eine Ahnung, dass Gott sich nicht so sehr dafür interessiert, was wir durchmachen, sondern wie wir es durchmachen. Auch wenn wir vielleicht bei der Aufgabe scheitern, die wir übernommen haben, wird es uns aus seiner Sicht als Erfolg angerechnet, wenn wir auf dieses Scheitern mit Glauben, Mut und Vertrauen auf die Kraft des Herrn reagieren, statt mit Verzweiflung, Bitterkeit und Niedergeschlagenheit.
Andererseits ist es überführend, weil wir vielleicht meinen, wir würden viel zustande bringen, obwohl wir in Wirklichkeit aus der Sicht des Herrn versagen. Der Apostel Paulus erkannte, dass er zwar ein brillanter und begabter Theologe sein konnte, einer, der wegen seiner Großzügigkeit in Armut lebte und sogar bereit war, als Märtyrer zu sterben, weil er das Evangelium verkündete, und doch – falls ihm die Liebe fehlte – in Gottes Augen nichts sein konnte. Denn wahrer Erfolg ist in der Liebe zu Gott und zu unseren Mitmenschen zu finden.
Nun, welche praktischen Anwendungen ergeben sich aus alledem für unser Leben? Zwei Punkte lassen sich festhalten.
Erstens müssen wir aus unserem Scheitern lernen. Wenn wir versagen, sollten wir uns die Situation nicht schönreden wie der Fuchs in Aesops Fabel. Stattdessen sollten wir unser Versagen analysieren, um zu erkennen, welche Lektion wir daraus lernen können. Das bedeutet nicht, dass wir versuchen sollten herauszufinden, warum Gott es zuließ. In vielen Fällen werden wir nie wissen, warum. Zu viele Christen machen den Fehler, den Packer als „Yorker Stellwerksfehler“ [4] bezeichnete. Auf den Gleisanlagen der Stadt York gibt es einen zentralen Kontrollraum mit einer elektronischen Schalttafel, deren Lampen die Position jedes Zuges im Bahnhof anzeigen. Wer im Kontrollturm die gesamte Schalttafel überblickt, kann genau verstehen, warum ein bestimmter Zug an einer Position warten muss oder warum ein anderer irgendwo auf ein Abstellgleis rangiert wurde, während uns unten auf den Schienen die Bewegungen der Züge vielleicht unerklärlich erscheinen. Ein Christ, der wissen will, warum Gott jedes einzelne Scheitern in seinem Leben zulässt, will – wie Packer sagt – in Gottes „Stellwerk“ sein, obwohl wir – wohl oder übel – dort einfach keinen Zugang haben. Deshalb ist es sinnlos, sich den Kopf zu zermartern, warum Gott dieses oder jenes Desaster in unserem Leben zulässt.
Doch obwohl wir die Wege der göttlichen Vorsehung nicht immer erkennen oder verstehen, können wir dennoch aus unserem Scheitern lernen. Lutzer sagt: „Es ist nicht nötig zu wissen, warum Gott uns das Unglück schickte, um davon profitieren zu können.“ [5] Fragen Sie sich, was Sie in Ihrer Situation anders hätten machen können oder was Sie beim nächsten Mal anders machen könnten. Fragen Sie sich, welche Reaktion Gott sich von Ihnen wünscht oder welche Charaktereigenschaft durch die Niederlage in Ihnen gefördert werden kann. Lernen Sie aus Ihrem Versagen.
Zweitens: Geben Sie nie auf. Nur weil Sie gescheitert sind, ist nicht alles aus. Hier ist das Beispiel eines Mannes wie Präsident Theodore Roosevelt aufschlussreich. Roosevelt, der als Junge schwach und kränklich gewesen war, kämpfte hart, um Großes zu erreichen, und war der einzige Präsident, dem je für Tapferkeit im Kampf die Ehrenmedaille des amerikanischen Kongresses verliehen wurde. Roosevelt erklärte:
„Die Anerkennung gebührt dem, der tatsächlich in der Arena steht, dessen Gesicht staubig und verschwitzt und voller Blut ist; der sich wacker bemüht; der sich irrt, der wieder und wieder scheitert, weil es kein Bemühen ohne Fehler und Schwächen gibt; aber der sich tatsächlich bemüht, Taten zu vollbringen; der großartige Begeisterung, großartige Hingabe kennt; der seine Kraft auf eine ehrenwerte Sache verwendet; der im besten Falle am Ende den Triumph einer großen Leistung kennt und der, im schlimmsten Falle, sollte er scheitern, zumindest bei einem kühnen Versuch scheitert, so dass sein Platz nie bei den kalten und furchtsamen Seelen ist, die weder Sieg noch Niederlage kennen.“ [6]
Sie sind nicht am Ende, nur weil Sie versagt haben. Sie sind erst am Ende, wenn Sie aufgeben und das Feld räumen. Geben Sie aber nicht auf! Lesen Sie mit Gottes Kraft die Scherben Ihres Scheitern auf, um dann, nachdem Sie daraus gelernt haben, weiterzumachen.
Genau das taten auch wir in unserer Situation. An deutschen Universitäten kann man ein Examen wiederholen, wenn man beim ersten Mal in der mündlichen Prüfung durchgefallen ist. Jan und ich wussten beide, dass ich es erneut versuchen musste, und unsere Freunde ermutigten uns dazu. Nachdem ich also angefangen hatte, am Trinity zu lehren, verbrachte ich das ganze darauffolgende Jahr damit, mich wieder auf das Rigorosum vorzubereiten. Ich arbeitete mich durch die beeindruckende dreibändige Dogmengeschichte von Harnack, die mehrbändige Pelikan-Reihe History of the Development of Doctrine, die History of Christian Doctrine von Cunliffe-Jones, die Dogmengeschichte von Loof und zwei umfassende Studienführer über das gesamte Gebiet der Dogmatik, die für deutsche Theologiestudenten zusammengestellt worden waren, und ich studierte die Dokumente der verschiedenen Konzile und Glaubensbekenntnisse der Kirche, Texte der Kirchenväter, Werke über zeitgenössische Theologie, und anderes mehr. Als das Jahr vorüber war, hatte ich einen gut 30 Zentimeter hohen Stapel von Notizen, die ich buchstäblich auswendig gelernt hatte, und war darauf vorbereitet, Fragen aus jedem Bereich der systematischen Theologie – ob Christologie, Anthropologie, Soteriologie oder was auch immer – von den frühen Apologeten bis zum Mittelalter, von der Reformation und der Aufklärung bis zum zwanzigsten Jahrhundert zu beantworten. Ich war gerüstet. Aber ich stand Todesängste aus.
Im nächsten Sommer kehrten wir nach Deutschland zurück, und ich ließ Jan in Berlin zurück, während ich zur Prüfung mit dem Zug nach München fuhr. Als ich Pannenbergs Büro betrat, sah alles noch genauso aus wie zuvor. Doch diesmal lief es anders. Pannenberg begann mit der Trinitätslehre, ausgehend von der Logos-Lehre der frühen Apologeten. Und zu meiner Freude (die ich kaum verbergen konnte!), stellte ich im weiteren Verlauf der Prüfung fest, dass ich vorbereitet war, auf jede Frage vollständige und treffende Antworten zu geben. Die einzige Frage, bei der ich stolperte, betraf die Frage, warum Hegels Lehre von der Inkarnation den Tod Gottes nach sich zog – und ich bedauerte nicht allzu sehr, dass ich gerade bei dieser Frage passen musste! Pannenberg selbst war sichtlich erfreut über meinen Erfolg und gab mir ein magna cum laude für die Prüfung. Ich schwebte wie auf Wolken!
Am Ende war es also ein Sieg für den Herrn. Aber dieser Sieg lag nicht nur im Bestehen der Prüfung. Denn ganz zu schweigen von den geistlichen Lektionen, die Gott mich lehrte, wurde mir eine ernüchternde Tatsache bewusst. Wie so viele andere amerikanische Studenten war ich im Seminar nur kümmerlich in der Geschichte der christlichen Lehre ausgebildet worden. Die Ausbildung in systematischer Theologie, die amerikanische evangelikale Seminare ihren Studenten im Allgemeinen vermitteln, ist nur ein blasser Schatten dessen, was deutsche Theologiestudenten an der Universität erhalten. Ist es da verwunderlich, dass eine skeptische deutsche Theologie in der Welt führend ist? Wie können wir je hoffen, dass die evangelikale Theologie eine führende Rolle einnehmen wird, wenn wir nicht anfangen, unsere Studenten mit derselben Stringenz und Gründlichkeit auszubilden, die für die theologische Lehre in Deutschland kennzeichnend ist? Ich kann ohne Zögern sagen, dass ich in diesem Jahr des intensiven Studiums mehr über systematische Theologie lernte als während meiner gesamten Ausbildung am Seminar. Obwohl ich diese Erfahrung auf keinen Fall wiederholen möchte, kann ich also ehrlich sagen, dass ich über mein Scheitern beim ersten Mal froh bin. Es war zum Besten, denn dieses Scheitern hatte zur Folge, dass ich für den Dienst, zu dem der Herr mich berufen hat, theologisch besser ausgerüstet wurde, als es je geschehen wäre, wenn ich sofort bestanden hätte.
Und ich bin so froh, dass wir nicht aufgegeben haben. Angenommen, wir hätten aufgegeben. Sagen wir, ich hätte aus Scham über mein Versagen die Hoffnung verloren und nicht ein zweites Mal versucht, das Examen zu bestehen. Der Stachel der Niederlage hätte mich jedes Mal verfolgt, wenn ich an mein Versagen gedacht oder ein Buch über systematische Theologie aufgeschlagen hätte. Ich hätte dieses Jahr des intensiven Studiums nicht gehabt und ich wäre auf dieser blutleeren Stufe meines theologischen Wissens stehengeblieben. Die Jahre wären vergangen, und ich hätte mir ständig die Frage gestellt: Hätte ich es noch einmal versuchen sollen? Selbst wenn ich beim zweiten Versuch wieder gescheitert wäre, wäre ich damit immer noch besser dran gewesen, als wenn ich aufgegeben hätte. Um ein altes Motto in einem anderen Kontext zu umschreiben: Es ist besser, bei einem Versuch zu scheitern, als es gar nicht erst zu versuchen.
Wenn Sie also einmal scheitern, geben Sie nicht auf. Bitten Sie Gott um die Kraft, weiterzumachen. Er wird sie Ihnen geben. Es gibt sogar einen biblischen Begriff für diese Eigenschaft. Man nennt es Ausdauer oder Beharrlichkeit. Durch das Scheitern, wenn Sie richtig reagieren, kann Gott die Fähigkeit zur Ausdauer in Ihrem Leben aufbauen.
Ein Scheitern im Leben eines Christen sollte uns also nicht überraschen. Gott hat uns durch unser Versagen wichtige Dinge zu lehren – und wahrer Erfolg, der Erfolg, der für die Ewigkeit zählt, besteht darin, diese Lektionen zu lernen. Wenn Sie also scheitern, verzweifeln Sie nicht und denken Sie nicht, Gott hätte Sie verlassen; lernen Sie vielmehr aus Ihren Fehlschlägen und geben Sie niemals auf. Das ist die Formel für Erfolg.
William Lane Craig
(Übers.: M. Wilczek)
Link to the original article in English: http://www.reasonablefaith.org/failure
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[1]
Dt.: Wie aus Fehlern Chancen werden. Das Beste aus falschen Entscheidungen machen, Dillenburg 2012: Christliche Verlagsanstalt
Dt.: Wie aus Fehlern Chancen werden. Das Beste aus falschen Entscheidungen machen, Dillenburg 2012: Christliche Verlagsanstalt
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[2]
Erwin Lutzer, Failure: The Back Door to Success (Chicago: Moody, 1975), S. 41-42.
Erwin Lutzer, Failure: The Back Door to Success (Chicago: Moody, 1975), S. 41-42.
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[3]
J. I. Packer, Knowing God (London: Hodder & Stoughton, 1973), S. 314; die deutsche Ausgabe erschien unter dem Titel Gott erkennen.
J. I. Packer, Knowing God (London: Hodder & Stoughton, 1973), S. 314; die deutsche Ausgabe erschien unter dem Titel Gott erkennen.
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[4]
Ibid., S. 110-11.
Ibid., S. 110-11.
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[5]
Lutzer, Failure, S. 66.
Lutzer, Failure, S. 66.
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[6]
https://de.wikipedia.org/wiki/Citizenship_in_a_Republic, abgerufen am 2.Oktober 2015
https://de.wikipedia.org/wiki/Citizenship_in_a_Republic, abgerufen am 2.Oktober 2015