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Leitfaden zu Sam Harris' Buch "The Moral Landscape" ("Die Moralische Landschaft")

Summary

Was ist die beste Begründung für die Existenz objektiver moralischer Werte und Pflichten? Was begründet sie? Was macht bestimmte Taten gut oder böse, richtig oder falsch? Wenn Gott nicht existiert, welche Grundlage gibt es dann für objektive Werte und Pflichten? Kann die Wissenschaft Antworten auf Fragen der Moral geben? Der Neo-Atheist Sam Harris bejaht dies.

Ursprünglich veröffentlicht im Herbst 2012 in Enrichment.

Ein großes Verdienst von Sam Harris‘ neuestem Buch The Moral Landscape ist seine entschiedene Bekräftigung der Objektivität moralischer Werte und Pflichten. Wer sagt, dass moralische Werte und Pflichten objektiv sind, sagt damit, dass sie unabhängig von menschlichen Meinungen gültig und bindend sind. Wer zum Beispiel sagt, dass der Holocaust objektiv böse war, sagt damit, dass er böse war, obwohl die Nazis, die ihn durchführten, ihn für gut hielten. Und er wäre selbst dann böse gewesen, wenn die Nazis den Zweiten Weltkrieg gewonnen hätten und es ihnen gelungen wäre, alle Andersdenkenden einer Gehirnwäsche zu unterziehen oder zu vernichten, sodass nur die übriggeblieben wären, die den Holocaust für gut hielten.

Harris entrüstet sich über „hochgebildete atheistische moralische Nihilisten“, über Nihilisten und Relativisten, die sich weigern, objektiv falsche entsetzliche Gräueltaten wie die Genitalverstümmelung kleiner Mädchen zu verurteilen. [1] Mit einem Zitat von Donald Symons erklärt er zu Recht: „Wenn auch nur ein einziger Mensch auf der Welt ein verängstigtes, strampelndes, schreiendes kleines Mädchen niederzwingen, ihre Genitalien mit einer verunreinigten Klinge herausschneiden und sie wieder zunähen würde, ... gäbe es nur die eine Frage zu beantworten, wie schwer dieser Mensch bestraft werden sollte.“ [2] Was nicht in Frage steht, ist, dass ein solcher Mensch etwas furchtbar und objektiv Falsches getan hat.

Objektive moralische Werte und Pflichten

Die Frage lautet also: Was ist die beste Grundlage für die Existenz objektiver moralischer Werte und Pflichten? Was begründet sie? Was macht bestimmte Taten gut oder böse, richtig oder falsch? Traditionell war Gott das höchste Gut (summum bonum), und seine Gebote konstituierten unsere moralischen Pflichten. Doch wenn Gott nicht existiert, welche Grundlage gibt es dann für objektive moralische Werte und Pflichten?

Betrachten wir zuerst die Frage nach objektiven moralischen Werten. Welche Grundlage gibt es im Atheismus für die Behauptung, dass es objektive moralische Werte gibt? Und insbesondere, warum sollte man annehmen, dass menschliche Wesen einen objektiven moralischen Wert besitzen? Aus atheistischer Sicht sind menschliche Wesen nur zufällige Nebenprodukte der Natur, die sich erst in relativ junger Vergangenheit auf einem unendlich winzigen Staubteilchen namens Planet Erde – irgendwo in einem feindlichen und geistlosen Universum verloren – entwickelt haben und in relativ kurzer Zeit individuell und kollektiv dem Untergang geweiht sind. Im Atheismus ist schwerlich ein Grund zu erkennen, warum man annehmen sollte, dass menschliches Gedeihen objektiv gut ist, mehr als das Gedeihen irgendeines Insekts oder das Gedeihen einer Ratte oder das Gedeihen einer Hyäne. Dies ist das, was Harris „das Wertproblem“ nennt. [3]

Mit seinem Buch Die Moralische Landschaft möchte Harris das „Wertproblem“ lösen; er möchte – im Rahmen des Atheismus – die Grundlage für die Existenz objektiver moralischer Werte erklären. [4] Er weist ausdrücklich die Auffassung zurück, dass moralische Werte platonische abstrakte Gegenstände wären, die unabhängig von der Welt existieren. [5] Somit bleibt ihm nur der Versuch, moralische Werte in der natürlichen Welt zu begründen. Aber kann er dies tun, da die Natur an und für sich moralisch neutral ist?

Naturalistische Sicht

Aus naturalistischer Sicht sind moralische Werte nur die verhaltensmäßigen Nebenprodukte biologischer Evolution und sozialer Konditionierung. So wie eine Herde von Pavianen kooperatives und sogar selbstaufopferndes Verhalten zeigt, weil die natürliche Selektion bestimmt hat, dass dies im Überlebenskampf von Vorteil ist, so zeigt der Homo sapiens – ihr verwandter Primat – aus demselben Grund ähnliche Verhaltensweisen. Unter dem Druck sozio-biologischer Einflüsse entwickelte sich beim Homo sapiens eine Art „Herdenmoral“, die für den Fortbestand unserer Spezies günstig ist. Doch aus atheistischer Sicht scheint es überhaupt nichts zu geben, das diese Moral objektiv wahr macht.

Der Wissenschaftstheoretiker Michael Ruse schreibt: „Der moderne Evolutionist ... vertritt den Standpunkt, dass Menschen ein Moralbewusstsein haben ... weil ein solches Bewusstsein biologischen Wert hat. Moral ist ebenso eine biologische Anpassung, wie es Hände und Füße und Zähne sind. ... Betrachtet man Ethik als eine rational begründbare Menge von Ansprüchen über ein objektives Etwas, ist sie illusorisch. Ich erkenne es zwar an, wenn jemand, der sagt: ‚Liebe deinen Nächsten wie dich selbst‘, dabei meint, sich auf etwas über oder außerhalb seiner selbst zu beziehen ... Nichtsdestoweniger ... hat eine solche Bezugnahme in Wirklichkeit keine Grundlage. Moral ist einfach ein Hilfsmittel für das Überleben und die Fortpflanzung, ... und jede tiefere Bedeutung ist illusorisch.“ [6]

Würden wir den Film der menschlichen Evolution zum Anfang zurückspulen und von vorn beginnen, hätten sich durchaus Menschen mit ganz anderen moralischen Werten entwickeln können. Wie Darwin selbst in Die Abstammung des Menschen schrieb: „Wenn ... der Mensch unter genau denselben Bedingungen aufgezogen würde wie Stockbienen, kann es kaum einen Zweifel geben, dass unsere unverheirateten Weibchen es ebenso wie die Arbeiterbienen für eine heilige Pflicht halten würden, ihre Brüder zu töten, und Mütter würden versuchen, ihre fruchtbaren Töchter zu töten, und niemand käme auf den Gedanken, hier einzuschreiten.“ [7]

Menschliche Wesen für besonders und unsere Moral für objektiv wahr zu halten bedeutet, der Versuchung zum Speziesismus zu erliegen – einer unzulässigen Voreingenommenheit für die eigene Spezies.

Wenn es keinen Gott gibt, scheint jede Grundlage zu fehlen, die vom Homo sapiens entwickelte Herdenmoral als objektiv wahr zu betrachten. Nimmt man Gott aus dem Bild heraus, scheint nichts zu bleiben als ein affenähnliches Geschöpf mit der Illusion moralischer Größe, der sich auf einem Planeten befindet, der im Vergleich zum Universum nur die Größe eines winzigen Staubteilchens hat.

Richard Dawkins' Beurteilung des menschlichen Werts mag deprimierend sein, doch warum irrt er aus atheistischer Sicht, wenn er sagt: „Es gibt letztlich keinen Entwurf, keine Absicht, kein Böses, kein Gutes, nichts außer zweckfreier Indifferenz. ... Wir sind Maschinen zur Verbreitung von DNA. ... Das ist der einzige Seinsgrund jedes lebenden Objekts.“ [8]  

Welche Lösung schlägt Sam Harris nun für das „Wertproblem“ vor? Der Trick, den er vorschlägt, besteht einfach darin, neu zu definieren, was er in nicht-moralischem Sinn mit „gut“ und „böse“ meint. [9] Er sagt, wir sollten „‚gut’ als das definieren, was [dem] Gedeihen bewusster Geschöpfe dient.“ [10] Er stellt fest: „Gut und Böse brauchen nur darin zu bestehen: Elend versus Wohlergehen.“ [11] Oder an anderer Stelle: „Wenn ich von ‚moralischer Wahrheit‘ spreche, sage ich damit, dass es Fakten geben muss, die sich auf menschliches und tierisches Wohlergehen beziehen.“ [12]

Also sagt er: „Fragen über Werte ... sind eigentlich Fragen nach dem Gedeihen bewusster Geschöpfe.“ [13] Deshalb kommt er zu dem Schluss: „Es ergibt keinen Sinn ... zu fragen, ob eine Maximierung des Gedeihens ‚gut‘ ist.“ [14] Warum nicht? Weil er das Wort ‚gut‘ neu definiert hat, sodass es das Gedeihen bewusster Geschöpfe bezeichnet. Wenn man also fragt: „Warum ist eine Maximierung des Gedeihens bewusster Geschöpfe ‚gut‘?“, ist das nach seiner Definition gleichbedeutend mit der Frage: „Warum wird durch eine Maximierung des Gedeihens von Geschöpfen das Gedeihen von Geschöpfen maximiert?“ Es ist einfach eine Tautologie – ein Zirkelschluss. So hat Harris sein Problem einfach dadurch „gelöst“, dass er seine Begriffe neu definiert hat. Es ist ein bloßes Wortspiel.

Letzten Endes spricht Harris gar nicht über moralische Werte. Er spricht einfach über das, was für das Gedeihen empfindsamen Lebens auf diesem Planeten förderlich ist. In diesem Licht betrachtet ist seine Behauptung, dass die Wissenschaft uns sehr viel darüber sagen kann, was zum menschlichen Gedeihen beiträgt, kaum kontrovers. Natürlich kann sie das – genauso wie sie uns sagen kann, was für das Gedeihen von Getreide oder von Moskitos oder von Bakterien förderlich ist. Seine sogenannte „moralische Landschaft“ als Bild für die Höhen und Tiefen menschlichen Gedeihens ist eigentlich gar keine moralische Landschaft.

Auf der vorletzten Seite seines Buchs gibt Harris dies mehr oder weniger zu. Denn es ist vielsagend, dass er einräumt: Wenn Menschen wie Vergewaltiger, Lügner und Diebe genauso glücklich sein könnten wie gute Menschen, dann wäre seine moralische Landschaft keine moralische Landschaft mehr; sie wäre vielmehr nur ein Kontinuum des Wohlergehens, dessen Gipfel von guten ebenso wie von bösen Menschen eingenommen werden. [15]

Interessant daran ist, dass Harris an früherer Stelle in seinem Buch feststellte, dass etwa drei Millionen Amerikaner psychopathisch sind, das heißt, sie kümmern sich nicht um den mentalen Zustand anderer. Ganz im Gegenteil macht es ihnen Spaß, anderen Menschen Schmerz zuzufügen. [16]

Dies impliziert, dass wir uns eine mögliche Welt denken können, in welcher das Kontinuum menschlichen Gedeihens keine moralische Landschaft ist. Die Gipfel des Gedeihens könnten von bösen Menschen eingenommen werden. Aber das hat zur Folge, dass in der tatsächlichen Welt das Kontinuum des Gedeihens und die moralische Landschaft auch nicht identisch sind. Denn Identität ist eine notwendige Beziehung. Es gibt keine mögliche Welt, in der irgendeine Größe A nicht mit A identisch ist. Wenn es also irgendeine mögliche Welt gibt, in der A nicht mit B identisch ist, folgt daraus, dass A tatsächlich nicht mit B identisch ist. Da es möglich ist, dass menschliches Gedeihen und moralisch Gutes nicht identisch sind, folgt daraus notwendig, dass menschliches Gedeihen und moralisch Gutes nicht dasselbe sind, wie Harris behauptet hat. Indem er die Möglichkeit einräumt, dass das Kontinuum des Gedeihens nicht mit der moralischen Landschaft identisch ist, hat Harris seine Auffassung logisch inkohärent gemacht.

Es ist Harris also nicht gelungen, das „Wertproblem“ zu lösen. Er hat keine Rechtfertigung oder Erklärung gegeben, warum aus atheistischer Sicht überhaupt objektive moralische Werte existieren sollten. Seine sogenannte Lösung ist nur ein semantischer Trick, durch den er eine willkürliche und idiosynkratische Neudefinition der Wörter „gut“ und „böse“ in einem nicht-moralischen Sinn liefert.

Das führt uns zu einer zweiten Frage: Bietet der Atheismus eine solide Grundlage für objektive moralische Pflichten? Pflicht hat mit moralischer Verpflichtung und moralischen Verboten zu tun, mit dem, was ich tun oder nicht tun sollte. Hier haben Rezensenten des Buchs The Moral Landscape Harris‘ Versuch, moralische Pflichten naturalistisch zu begründen, völlig zerrissen. Zwei Probleme ragen heraus.

Erstens: Die Naturwissenschaft sagt uns nur, was ist, und nicht, was sein sollte. Der Philosoph Jerry Fodor schrieb dazu: „Wissenschaft handelt von Fakten, nicht von Normen; sie kann uns sagen, wie wir sind, aber sie würde uns nicht sagen, was an der Art und Weise, wie wir sind, falsch ist.“ [17] Insbesondere kann sie uns nicht sagen, dass wir eine moralische Verpflichtung haben, Dinge zu tun, die das menschliche Gedeihen fördern.

Wenn es also keinen Gott gibt, welche Grundlage gibt es dann für objektive moralische Pflichten? Aus naturalistischer Sicht sind Menschen nur Tiere, und Tiere haben keine gegenseitigen moralischen Pflichten. Wenn ein Löwe ein Zebra tötet, tötet er das Zebra, aber er ermordet es nicht. Wenn ein großer weißer Hai sich gewaltsam mit einem Weibchen paart, paart er sich gewaltsam mit ihm, aber er vergewaltigt es nicht – denn es gibt bei diesen Verhaltensweisen keine moralische Dimension. Sie sind weder verboten, noch obligatorisch.

Wenn Gott also nicht existiert, warum sollten wir dann meinen, dass wir irgendwelche moralischen Pflichten hätten, irgendetwas zu tun? Wer oder was kann uns solche moralischen Pflichten auferlegen? Woher kommen sie? Es ist kaum zu verstehen, warum sie mehr sein sollten als ein subjektiver Eindruck, der uns durch gesellschaftliche und elterliche Konditionierung eingepflanzt wurde.

Aus atheistischer Sicht sind bestimmte Verhaltensweisen wie Inzest und Vergewaltigung vielleicht biologisch und sozial nicht von Vorteil, sodass sie im Lauf der menschlichen Entwicklung zu Tabus geworden sind, das heißt, zu sozial inakzeptablen Verhaltensweisen. Aber damit ist überhaupt nichts darüber gesagt, dass Vergewaltigung oder Inzest tatsächlich falsch sind. Solche Verhaltensweisen gibt es im Tierreich ständig. Aus atheistischer Sicht tut der Vergewaltiger, der sich über die Herdenmoral hinwegsetzt, nichts Gravierenderes als sich nicht entsprechend der vorherrschenden Mode zu verhalten, eine moralische Entsprechung zu Lady Gaga. Wenn es keinen moralischen Gesetzgeber gibt, dann gibt es kein objektives moralisches Gesetz; und wenn es kein objektives moralisches Gesetz gibt, dann haben wir keine objektiven moralischen Pflichten.

Harris reagiert ungeduldig auf solche Fragen: „Wie viel Zeit sollten wir darauf verwenden, uns über eine solche transzendente Wertquelle Gedanken zu machen?“, entrüstet er sich. „Ich denke, die Zeit, die ich brauchen werde, um diesen Satz zu tippen, ist schon zu lang.“ [18] Er unternimmt einen halbherzigen Vorstoß, um zu zeigen, dass die Trennung zwischen Fakten und Werten in dreifacher Hinsicht illusorisch ist: [19]

1. Fakten über die Maximierung des Gedeihens bewusster Geschöpfe müssen in Fakten über Gehirne übersetzt werden. Vielleicht; aber dieser Punkt ist irrelevant, da die Frage bestehen bleibt: Warum sollen wir meinen, dass wir im Rahmen des Atheismus eine moralische Pflicht haben, das Gedeihen bewusster Geschöpfe zu maximieren (oder dass es überhaupt objektiv gut ist, dies zu tun)?

2. Objektives Wissen ist bereits mit inhärenten Werten versehen, da wir logische Stringenz, Verlässlichkeit der Beweise, usw. wertschätzen müssen. Hier sehen wir erneut, wie Harris Wertbegriffe mehrdeutig verwendet. Dies bedeutet, dass objektives Wissen logische Stringenz, Verlässlichkeit von Beweisen usw. als notwendige Bedingungen des Wissens verlangt. Es hat nichts mit moralischen Werten zu tun.

3. Überzeugungen über Fakten und Überzeugungen über Werte entstehen durch ähnliche Gehirnprozesse. Ja, und? Denkt Harris, dass daraus zu schließen wäre, dass es dieselben Überzeugungen sind? Da wird der Ursprung einer Überzeugung mit dem Inhalt der Überzeugung verwechselt. Nur weil zwei verschiedene Überzeugungen durch ähnliche Gehirnprozesse entstehen, bedeutet dies noch nicht, dass sie dieselbe Bedeutung oder denselben Informationsgehalt haben. Was immer ihr Ursprung sein mag: Überzeugungen über das, was der Fall ist, und Überzeugungen über das, was der Fall sein sollte (oder nicht sein sollte), sind nicht dasselbe. Die eine Überzeugung könnte wahr und die andere falsch sein. Der Auffassung von Harris fehlt also jede Quelle für eine objektive moralische Pflicht.

Zweitens: „Sollen“ setzt „können“ voraus. Eine Person ist für eine Tat, die sie nicht vermeiden kann, nicht verantwortlich. Wenn jemand Sie zum Beispiel gegen eine andere Person stößt, ist das Anrempeln dieser Person nicht Ihre Schuld. Sie hatten keine Wahl. Harris glaubt aber, dass alle unsere Taten kausal determiniert sind und dass es keinen freien Willen gibt. [20] Harris lehnt nicht nur libertäre Freiheitsbegründungen ab, sondern auch kompatibilistische Freiheitsbegründungen. Aber wenn es keinen freien Willen gibt, ist niemand für irgendetwas moralisch verantwortlich. Am Ende gibt Harris dies zu, wenn auch nur versteckt in seinen Fußnoten. Moralische Verantwortung, sagt er, „ist ein soziales Konstrukt“, keine objektive Wirklichkeit: „In neurowissenschaftlichen Begriffen ist keine Person mehr oder weniger verantwortlich [für das, was sie tut] als irgendeine andere“. [21] Sein konsequenter Determinismus bedeutet das Ende jeder Hoffnung oder Möglichkeit objektiver moralischer Pflichten in seiner Weltanschauung, weil wir keine Kontrolle über das haben, was wir tun.

Harris räumt ein, dass „Determinismus tatsächlich eine echte Bedrohung für den freien Willen und die Verantwortung ist, so wie wir sie intuitiv verstehen.“ [22] Aber das braucht uns nicht zu kümmern! „Die Illusion eines freien Willens ist selbst eine Illusion.“ [23] Der Punkt ist, wenn ich recht verstehe, dass wir nicht wirklich die Illusion eines freien Willens haben. Eine solche Behauptung ist nicht nur phänomenologisch offenkundig falsch, wie jeder von uns bezeugen kann, sondern sie ist auch irrelevant. Es bleibt die Tatsache, dass wir – ob wir nun die Illusion eines freien Willens haben oder nicht – aus der Sicht von Harris in allem, was wir denken und tun, völlig determiniert sind und deshalb keinerlei moralische Verantwortung haben.

Schlussfolgerung

Nach Auffassung von Harris gibt es weder eine Quelle für objektive moralische Pflichten noch irgendeine Möglichkeit einer objektiven moralischen Pflicht. Deshalb gibt es, auch wenn er das Gegenteil beteuerte, nichts objektiv Richtiges oder Falsches.

Somit kann die naturalistische Auffassung von Sam Harris keine solide Grundlage für objektive moralische Werte und Pflichten bieten. Wenn Gott nicht existiert, sind wir in einer moralisch Werte-losen Welt gefangen, in der nichts verboten ist. Harris‘ Atheismus passt also gar nicht zu seinem ethischen Objektivismus.

Was der Theist ihm bietet, ist nicht eine Anzahl neuer moralischer Werte – im Großen und Ganzen ist uns eine große Bandbreite von Positionen der angewandten Ethik gemeinsam –, sondern was wir bieten können, ist vielmehr eine solide Grundlage für die moralischen Werte und Pflichten, die uns beiden lieb und teuer sind.

(Übers.: M. Wilczek)

William Lane Craig

  • [1]

    Sam Harris, The Moral Landscape: How Science Can Determine Human Values (New York 2010, S. 198. Er fügt hinzu: „Ich hoffe aufrichtig, dass es Leuten wie Rick Warren entgangen ist.“

  • [2]

    Ibid., S. 46.

  • [3]

    Sam Harris, „A Response to Critics“, Huffington Post, 29. Januar 2011; http://www.huffingtonpost.com/sam-harris/a-response-to-critics_b_815742.html. Aufgerufen am 11. Januar 2012.

  • [4]

    Harris, Moral Landscape, S. 102.

  • [5]

    Ibid., S. 30.

  • [6]

    Michael Ruse, „Evolutionary Theory and Christian Ethics“, in: The Darwinian Paradigm, London 1989, S. 262, 268 und 289.

  • [7]

    Charles Darwin, The Descent of Man and Selection in Relation to Sex, 2. Auflage, New York 1909, S. 100. Der Titel der deutschen Ausgabe lautet: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl.

  • [8]

    Richard Dawkins, Unweaving the Rainbow, London, 1998, zitiert in: Lewis Wolpert, Six Impossible Things Before Breakfast, London, 2006, S. 215. Leider ist Wolperts Quellenangabe unzutreffend. Das Zitat ist offenbar eine Persiflage aus Richard Dawkins, River out of Eden: a Darwinian View of Life, New York, 1996, S. 133, und Richard Dawkins, „The Ultraviolet Garden“, Vortrag 4 aus: 7 Royal Institution Christmas Lectures, 1992, http://physicshead.blogspot.com/2007/01/richard-dawkins-lecture-4-ultraviolet.html. Aufgerufen am 11. Januar 2012. Die Ermittlung dieser Quellengabe ist meinem Assistenten Joe Gorra zu verdanken.

  • [9]

    Harris setzt in seinem Buch wiederholt moralische und nicht-moralische Bedeutungen von „gut“ und „böse“ in eins. Zum Beispiel sagt er, dass es im Schach objektiv gut und schlechte Schachzüge gibt (Moral Landscape, S. 8). Ein schlechter Zug in einem Schachspiel ist eindeutig kein moralisch schlechter Zug und genausowenig ist ein guter Zug im Sinn eines moralischen Wertes gut. Harris unterscheidet nicht, dass „gut“ und „böse“ im Englischen in einer ganzen Bandbreite nicht-moralischer Bedeutungen verwendet wird; zum Beispiel, wenn wir sagen:

    „Das kann dich gut und gerne das Leben kosten.“

    „Das ist ein guter Spielplan.“

    „Die Milch ist schlecht geworden.“

    „Das ist eine schlechte Idee.“

    „Der Sonnenschein hat gut getan.“

    „Das ist eine gute Verbindung nach East Lansing.“

    „Sie ist guter Dinge.“

    In ähnlicher Weise ist Harris’ Gegensatz zwischen einem „guten Leben“ und einem „schlechten Leben“ kein ethischer Gegensatz zwischen einem moralisch guten und einem moralisch bösen Leben, sondern ein Gegensatz zwischen einem vergnüglichen und einem elenden Leben. Er nennt keinen Grund, Vergnügen/Elend mit moralisch gut/böse oder richtig/falsch zu identifizieren.

  • [10]

    Harris, Moral Landscape, S. 12.

  • [11]

    Ibid., S. 198.

  • [12]

    Ibid., S. 31.

  • [13]

    Ibid., S. 1.

  • [14]

    Ibid., S. 12.

  • [15]

    Ibid., S. 190.

  • [16]

    Ibid., S. 97–99.

  • [17]

    Zitiert in: ibid., S. 11.

  • [18]

    Harris, Moral Landscape, S. 32.

  • [19]

    Ibid., S. 11.

  • [20]

    Ibid., S. 104.

  • [21]

    Ibid., S. 217.

  • [22]

    Ibid., S. 218, in einem Zitat aus Greene und Cohen.

  • [23]

    Ibid., S. 112.