Die Geburt Gottes
Summary
Ergibt es Sinn zu sagen, dass Weihnachten die Geburt Gottes markiert? Diese Frage rief die ersten theologischen Debatten des 4. und 5. Jahrhunderts hervor – wie kann Jesus als sowohl menschlich als auch göttlich zugleich gesehen werden? Im folgenden Artikel legt Prof. Dr. Craig sein Verständnis dar, wie die göttliche und menschliche Natur Jesu sich in einer einzigen Person vereinigen, welche tiefe Bedeutsamkeit seine Erfahrung menschlicher Schwachheit hatte, und wie man überzeugend an der Feier der „Geburt Gottes“ in der Weihnachtszeit festhalten kann.
Ich bin gebeten worden, heute Abend über “Die Geburt Gottes” zu sprechen. Der Titel klingt schrill, denn er scheint unbegreiflich. Wie kann Gott, der unerschaffene Schöpfer aller Dinge, eine Geburt erleben? Wie kann ein Wesen, das allein kraft einer selbst existiert und ewig ist, der Schöpfer von Zeit und Raum, geboren werden? Das scheint keinen Sinn zu ergeben.
Und doch, an Weihnachten ist es in gewisser Weise genau das, was Christen feiern. Die christliche Lehre von der Inkarnation besagt, dass Jesus Christus Gott im Fleisch ist. Jesus war deshalb wahrer Gott und wahrer Mensch. Er wurde von der Jungfrau Maria geboren, d.h., Jesus wurde übernatürlich empfangen, aber völlig natürlich geboren. Da Jesus der ins Fleisch gekommene Gott war, wird seine Mutter Maria in den frühen christlichen Glaubensbekenntnissen „die Mutter Gottes“ oder „Gottesgebärerin“ genannt. Nicht, weil Gott durch die Empfängnis der Maria irgendwie ins Dasein kam oder weil Maria irgendwie Gott gezeugt hatte, sondern sie konnte „Gottesgebärerin“ genannt werden, weil die Person, die sie in ihrem Leib trug und gebar, göttlich war. So war in diesem Sinne die Geburt Jesu die Geburt Gottes.
Doch das verschiebt das Problem nur ein wenig. Denn wie kann Jesus sowohl Gott und Mensch sein, wie Christen es glauben? Wenn irgendetwas widersprüchlich erscheint, dann gewiss das! Denn die Eigenschaften, göttlich zu sein und die Eigenschaften, menschlich zu sein, scheinen sich gegenseitig auszuschließen. Gott existiert allein kraft seiner selbst, er ist notwendig, ewig, allmächtig, allwissend, allgegenwärtig usw. Doch menschliche Wesen sind erschaffen, abhängig, zeitgebunden und in ihrer Macht, ihrem Wissen und Raum begrenzt. Wie kann dann eine Person zugleich menschlich und göttlich sein?
Die Geburt Gottes – Die Bibel beschreibt Jesus sowohl als menschlich als auch göttlich
Nun, im Falle, dass ein Christ, der mit dieser Frage kämpft, versucht ist, das Problem zu vermeiden, indem er einfach leugnet, dass Jesus wirklich göttlich oder aber, dass er wirklich menschlich war, dann lassen Sie mich sagen, dass uns die Bibel diese Optionen nicht offenlässt. Das Neue Testament bestätigt sowohl die Göttlichkeit als auch die Menschlichkeit von Jesus Christus und zwingt uns so das Problem auf. Nehmen wir zum Beispiel das Eröffnungskapitel des Johannesevangeliums. Die Evangelien von Matthäus und Lukas eröffnen mit der Geschichte der übernatürlichen Empfängnis und Jungfrauengeburt; doch das Evangelium des Johannes zeigt eine mehr kosmische Perspektive, in der die Inkarnation des präexistenten Wortes Gottes beschrieben wird. Johannes schreibt:
„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheint in der Finsternis, doch die Finsternis hat es nicht erfasst. Es war ein Mensch, von Gott gesandt, der hieß Johannes. Der kam zum Zeugnis, um von dem Licht zu zeugen, damit sie alle durch ihn glaubten. Er war nicht das Licht, sondern er sollte zeugen von dem Licht. Das war das wahre Licht, das alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen […] Und das Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit. Johannes gibt Zeugnis von ihm und ruft: ‚Dieser war es, von dem ich gesagt habe: Nach mir wird kommen, der vor mir gewesen ist; denn er war eher als ich. Und von seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade. Denn das Gesetz ist durch Moses gegeben, die Gnade und Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden. Niemand hat Gott je gesehen; der Eingeborene, der Gott ist und in des Vaters Schoß ist, der hat ihn uns verkündigt.“ (Joh 1,1-9. 14-18)
Hier beschreibt Johannes Jesus als “Gott”, den Schöpfer aller Dinge, der Fleisch wurde und vor etwa 2000 Jahren im Lande Judäa in die menschliche Geschichte eintrat. Somit ist die Folgerung unausweichlich, aber auch das Problem, vor das sie uns stellt: Jesus war sowohl menschlich als auch göttlich.
Als nachfolgende Generationen in der frühen Kirche darum kämpften, die Lehre von der Inkarnation zu begreifen, lösten einige diesen offenbaren Widerspruch nur auf Kosten der Verleugnung des einen oder anderen Pols der biblischen Lehre. Gruppen wie die Gnostiker oder Doketisten leugneten beispielsweise, dass Christus wahrhaft menschlich war. Er schien nur, eine menschliche Form anzunehmen. Das Fleisch Christi war lediglich eine Illusion oder eine Verkleidung und seine angeblichen Leiden nur scheinbar. Andererseits gab es Gruppen wie die Adoptionisten oder Eutychianer, die stattdessen die wahre Göttlichkeit Christi leugneten. Jesus von Nazareth war nur ein sterblicher Mensch, den Gott als seinen Sohn adoptierte und in den Himmel aufnahm. Im Widerspruch zu diesen Gruppen, die zur Rechten oder Linken abwichen, verdammte die frühe Kirche wiederholt jegliche Leugnung der Menschlichkeit oder Göttlichkeit Christi als häretisch.
Wie widersprüchlich oder mysteriös es auch scheinen mochte, Theologen blieben standhaft bei der biblischen Aussage, dass Jesus Christus wahrer Gott und wahrer Mensch sei.
Die Geburt Gottes – Die Auseinandersetzung über die Natur Christi
Mit der Zeit entstanden schließlich in der frühen Kirche zwei Zentren für theologische Debatten über die Inkarnation, eine in der Stadt Alexandrien in Ägypten, und die andere in der Stadt Antiochien in Syrien. Beide Gedankenschulen waren sich darin eins, dass sie sowohl die Menschlichkeit als auch Göttlichkeit Jesu Christi bestätigten; doch jede von ihnen bot einen unterschiedlichen Weg, die Inkarnation zu begreifen. Lassen Sie mich versuchen, die beiden Ansichten zu erklären, weil sie mir später als Sprungbrett für meinen eigenen Versuch dienen sollen.
Sowohl die alexandrinischen als auch antiochenischen Theologen gingen von der Annahme aus, dass alles eine Natur hat, d. h., essenzielle Eigenschaften, die bestimmen, welcher Art etwas ist. Beispielsweise hat ein Pferd eine andere Natur als ein Schwein, und beide unterscheiden sich von der menschlichen Natur. Laut dem großen griechischen Philosophen Aristoteles ist die Natur eines menschlichen Wesens die, ein vernunftbegabtes Tier zu sein. Das bedeutete, ein menschliches Wesen besteht essenziell aus einer vernunftbegabten Seele und einem leiblichen Körper. Diese Auffassung von der menschlichen Natur wurde gleichermaßen von den Theologen Alexandriens als auch Antiochiens akzeptiert. Zudem hat auch Gott dieser Auffassung nach eine Natur, die Eigenschaften wie kraft seiner selbst existierend, ewig, allmächtig, allwissend usw. beinhaltet.
Der Streit zwischen Alexandrien und Antiochien belief sich im Wesentlichen auf die Frage: hatte Jesus Christus eine Natur oder zwei Naturen? Die Theologen von Alexandrien argumentierten, dass der inkarnierte Christus eine Natur habe, die eine Mischung aus göttlichen und menschlichen Eigenschaften darstellt. Einen der raffiniertesten Vorschläge, die aus dieser Schule kamen, bot ein Bischof Apollinaris, der ungefähr 390 n. Chr. starb. Apollinaris schlug vor, dass in der Inkarnation Gott, der Sohn, die zweite Person der Trinität, einen menschlichen Leib annahm, sodass Jesus Christus einen menschlichen Leib, aber einen göttlichen Geist oder eine göttliche Seele hatte. So erfuhr Gott die Welt durch einen menschlichen Leib hindurch und litt in diesem Leib, während er sündlos und unfehlbar in Seiner Person blieb. Christus besaß also eine göttlich-menschliche Natur und war damit sowohl Gott als auch Mensch.
Die Theologen aus Antiochien griffen die Sicht des Apollinaris aus zwei Gründen an. Erstens argumentierten sie, dass nach Sicht von Apollinaris Christus keine vollständig menschliche Natur hatte. Er hatte nur einen menschlichen Körper. Aber seine Seele war göttlich. Wahrhaft menschlich zu sein, beinhaltet aber, sowohl einen menschlichen Körper als auch eine menschliche Seele zu besitzen. Was den Menschen von den Tieren unterscheidet, ist seine vernunftbegabte Seele, nicht sein Leib. Die Theologen aus Antiochien erhoben deshalb die Anklage, dass nach der Sicht des Apollinaris die Inkarnation darauf hinausliefe, dass Gott ein Tier, nicht ein Mensch wurde.
Ihr zweiter Einwand war mit dem ersten verbunden. Da das Ziel der Inkarnation die Rettung der Menschheit war, so wurde die Errettung zunichte, wenn Christus nicht wirklich Mensch geworden war. Der ganze Gedankengang, der hinter der Inkarnation stand, war, dass Christus, indem er einer von uns wurde und sich mit seinen Mitmenschen identifizierte, sein sündloses Leben Gott als Opfer an unser statt darbringen konnte. Am Kreuz starb Jesus Christus stellvertretend für uns; er trug die Strafe der Sünde, die wir verdient hatten. Jesus ist somit der Retter aller, die ihr Vertrauen in ihn setzen.
Doch wenn Christus nicht wirklich Mensch war, dann konnte er auch nicht als unser Stellvertreter vor Gott dienen, und sein Leiden war null und nichtig, und es gibt keine Rettung. Indem Apollinaris die volle Menschlichkeit Christi leugnete, unterhöhlte er die Rettung durch Christus. Aus diesen Gründen wurde Apollinaris' Sicht im Jahre 377 als häretisch verurteilt. Die Frage, die bleibt, wie ich denke, ist, ob die Sicht des Apollinaris völlig daneben war oder ob sie einen wertvollen Kern Wahrheit enthielt, den zu retten es sich lohnen würde.
Welche Alternative hatten dann die Theologen von Antiochien zu bieten? Im Gegensatz zu Alexandrien bestanden die Theologen von Antiochien darauf, dass Christus in der Inkarnation zwei vollkommene Naturen besaß, eine menschliche und eine göttliche. Sie vertraten die Ansicht, dass Gottes Sohn, die zweite Person der Trinität, in gewissem Sinne dem menschlichen Wesen Jesus vom Augenblick seiner Empfängnis in Marias Leib an innewohnte. Ein berühmter Bischof der antiochischen Schule mit Namen Nestorius widersprach der Bezeichnung Marias als „Gottesgebärerin“, da das, was sie gebar, die menschliche Natur Christi war, nicht Gott. Christi menschliche Natur umfasste sowohl einen menschlichen Körper und eine menschliche Seele, die in bestimmter Art und Weise von Gott dem Sohn eingenommen oder in Besitz genommen wurde.
Das Problem mit der antiochischen Sicht im Denken ihrer alexandrinischen Gegner war, dass sie anscheinend implizierte, dass es zwei Personen in Christus gab. Zuerst die göttliche Person, die zweite Person der Trinität, die vor Marias wunderbarer Empfängnis existierte. Zweitens gab es die menschliche Person, die von Maria empfangen und geboren wurde. So hat man offenbar zwei Personen, eine menschliche und eine göttliche! Denken wir es uns derart: eine menschliche Person besteht aus Körper und Seele. Wenn also Jesus eine vollkommen menschliche Natur hatte, einschließlich eines menschlichen Körpers und einer menschlichen Seele, warum sollte es dann nicht eine menschliche Person geben, die im Augenblick ihrer Empfängnis zu existieren begann und in der dann der Sohn Gottes Wohnung nahm? Aber in diesem Fall hat man keine wirkliche Inkarnation, alles, was man hat, ist ein menschliches Wesen, dem Gott innewohnt. Der unglückselige Nestorius wurde deshalb von seinen Kritikern als jemand gebrandmarkt, der die Einheit der Person Christi zerstört, und so wurde seine Sicht 431 als häretisch verurteilt.
Die Geburt Gottes – Zwei vollständige Naturen in einer Person
Was war also zu tun? Um den Streit zwischen Antiochien und Alexandrien beizulegen, wurde im Jahre 451 ein ökumenisches Konzil in Chalcedon einberufen. Das Bekenntnis, das von dem Konzil herausgegeben wurde, stellt eine tiefgründige und sorgfältige Abgrenzung einer orthodoxen Inkarnationslehre dar. Es bemüht sich das zu bestätigen, was an den Ansichten beider Schulen korrekt ist und gleichzeitig das zu verdammen, wo sie irren. Das Bekenntnis bestätigt im Grunde mit Antiochien die Unterschiedlichkeit der Naturen Christi und mit Alexandrien die Einheit seiner Person: eine Person, die zwei Naturen hat. Lassen Sie mich Ihnen das Bekenntnis des Konzils vorlesen:
"In der Nachfolge der heiligen Väter also lehren wir alle übereinstimmend, unseren Herrn Jesus Christus als ein und denselben Sohn zu bekennen: derselbe ist vollkommen in der Gottheit und derselbe ist vollkommen in der Menschheit; derselbe ist wahrhaft Gott und wahrhaft Mensch aus vernunftbegabter Seele und Leib; derselbe ist der Gottheit nach dem Vater wesensgleich und der Menschheit nach uns wesensgleich, in allem uns gleich außer der Sünde [vgl. Hebr. 4,15]; derselbe wurde einerseits der Gottheit nach vor den Zeiten aus dem Vater gezeugt, andererseits der Menschheit nach in den letzten Tagen unsertwegen und um unseres Heils willen aus Maria, der Jungfrau
ein und derselbe ist Christus, der einziggeborene Sohn und Herr, der in zwei Naturen unvermischt, unveränderlich, ungetrennt und unteilbar erkannt wird, wobei nirgends wegen der Einung der Unterschied der Naturen aufgehoben ist, vielmehr die Eigentümlichkeit jeder der beiden Naturen gewahr bleibt und sich in einer Person und einer Hyposthase vereinigt; der einziggeborene Sohn, Gott, das Wort, der Herr Jesus Christus, ist nicht in zwei Personen geteilt oder getrennt, sondern ist ein und derselbe, wie es früher die Propheten über ihn und Jesus Christus selbst es uns gelehrt und das Bekenntnis der Väter es uns überliefert hat." [1]
So ist nach diesem Bekenntnis Christus eine Person mit zwei Naturen, menschlich und göttlich. Der Doppelirrtum, den es zu vermeiden gilt, ist zum einen, die Person zu teilen, zum andern die Naturen zu vermischen. Die Naturen sind verschieden und vollkommen, und die Person ist eine in der Zahl.
Nun beachten Sie, dass das Bekenntnis des Konzils nicht zu erklären vorgibt, wie eine Person zwei Naturen haben kann, eine menschliche und eine göttliche. Dies wird der weiteren theologischen Debatte überlassen. Doch worauf das Konzil bestand, ist, dass wenn wir ein biblisches Dogma der Inkarnation haben wollen, wir weder die Person Christi in zwei Personen teilen, noch seine zwei Naturen in einer Natur vermischen dürfen.
Die Frage lautet also: ist das möglich? Kann eine logisch schlüssige und biblisch treue Darlegung der Inkarnation entwickelt werden? Viele würden dies für unmöglich halten. Die Inkarnation ist eine Lehre, die man entweder als Widerspruch ablehnt oder als ein Mysterium annimmt. Ich stimme dem nicht zu. Ich bin der Überzeugung, dass es möglich ist, eine logisch schlüssige und biblisch treue Darlegung der Inkarnation zu entwickeln. Was ich Ihnen vorschlagen möchte ist, Ihnen diese nun in groben Zügen darzubieten. Ich entwickle meine Darlegung in drei Schritten:
Die Geburt Gottes – Die Rationalität wird von beiden Naturen Christi geteilt
Schritt 1: Bestätigung des Konzils von Chalcedon, dass Christus eine Person ist, die zwei Naturen hat. Die Inkarnation sollte nicht so gedacht werden, als ob Gott sich Selbst in ein menschliches Wesen verwandelte. Die Inkarnation unterscheidet sich vollkommen von Geschichten antiker Mythologien über Götter, die sich selbst für eine Zeit lang in Menschen oder Tiere verwandeln und sich dann in die Gottheiten zurückverwandeln. Christus war nicht zuerst Gott, dann ein menschliches Wesen, dann wieder Gott. Er war vielmehr Gott und Mensch zugleich.
Die Inkarnation war deshalb keine Angelegenheit der Subtraktion – dass Gott bestimmte Attribute aufgegeben hätte, um ein Mensch zu werden. Die Inkarnation ist vielmehr eine Angelegenheit der Addition – dass Gott zusätzlich zu seiner göttlichen Natur, die Er bereits besaß, noch eine andere Natur, eine menschliche Natur, annahm, sodass in der Inkarnation Gott, der Sohn, zwei Naturen bekam, eine göttliche, die er von Ewigkeit an schon immer besessen hatte, und eine menschliche, die in dem Augenblick ihren Anfang nahm, als er in Marias Leib empfangen wurde. Somit hatte er alle Eigenschaften der Göttlichkeit und alle Eigenschaften der Menschlichkeit.
Die Frage ist: wie kann eine Person solche zwei Naturen haben? Dies führt mich zu meinem zweiten Schritt:
Schritt 2: Bestätigung mit Apollinaris, dass die Seele Jesu Christi Gott, der Sohn, war.
Was Apollinaris richtig erkannte, war, dass die beste Möglichkeit, den nestorianischen Irrtum, es gäbe zwei Personen in Christus, zu vermeiden, darin bestand, einen gemeinsamen Bestandteil zu postulieren, den seine menschliche und seine göttliche Natur miteinander teilen, sodass diese zwei Naturen sich sozusagen überschneiden. Bei Apollinaris´ Vorschlag war dieser gemeinsame Bestandteil die Seele Jesu Christi. Leider dachte Apollinaris offenbar nicht, dass Christus eine vollkommen menschliche Natur besaß, was, wie seine Kritiker zurecht erkannten, die Menschheit Christi und sein Rettungswerk untergrub.
Doch sind diese Mängel der Auffassung des Apollinaris irreparabel? Ich denke nicht. Erinnern Sie sich daran, was menschliche Natur bedeutet: Mensch zu sein bedeutet, sich vom Tier durch Vernunft zu unterscheiden. Da Gott keinen Leib hat, hat Er auch nicht die Natur eines Tieres. Doch Gott ist der höchste vernünftige Geist. Darum besaß Gott, der Sohn, schon vor seiner Inkarnation Vernunft und Persönlichkeit. Deshalb brachte Gott, der Sohn, als er einen menschlichen Körper annahm, zu dem leiblichen Körper Christi hinzu genau diese Eigenschaften mit, die ihn von einer reinen Tiernatur zu einer vollkommen menschlichen Natur erheben würden, die aus Körper und vernünftiger Seele besteht.
Die menschliche Natur Christi kann unabhängig von ihrer Vereinigung mit Gott, dem Sohn, nicht einmal existieren; es gäbe sonst dort nur eine Leiche bzw. eine wiederbeseelte Leiche. Die Menschheit Christi entsteht gerade durch die Vereinigung Gottes, des Sohnes, mit dem Fleisch. Somit hat Christus schließlich doch zwei vollkommene Naturen: eine göttliche Natur, die von Ewigkeit her präexistent war, und eine menschliche Natur, die in Marias Leib entstand, kraft der Vereinigung von Gott, dem Sohn, mit dem Fleisch.
Diese Neuformulierung entkräftet die traditionellen Einwände gegen die Lehre des Apollinaris. Denn erstens hat Christus dieser Anschauung nach zwei vollkommene Naturen, eine göttliche und menschliche, einschließlich einer vernunftbegabten Seele und eines Körpers. Zweitens ist Christus infolgedessen wahrhaft menschlich, und somit ist sein Sterben um unsertwillen gültig. Beachten Sie, dass Christus nicht nur menschlich ist, da er auch göttlich war, aber er war dennoch wahrhaft menschlich und konnte so als unser Stellvertreter vor Gott stehen, unsere Strafe tragen, sodass wir frei ausgehen können.
So weit, so gut! Doch immer noch ist dieser Versuch nicht ganz adäquat. Denn, wenn die Seele Jesu Christi Gott, der Sohn, war, wie können wir dann die biblische Darstellung von Jesus als jemanden verstehen, der ein authentisches menschliches Bewusstsein hatte, das sich von Kindheit an bis zum Mannesalter entwickelte? Dies führt mich zu meinem dritten Schritt:
Schritt 3: Bestätigung, dass die göttlichen Aspekte der Persönlichkeit Jesu während seines irdischen Lebens weithin unterschwellig vorhanden waren. Ich schlage vor, dass die übermenschlichen Elemente der Person Jesu weitgehend unterbewusst vorhanden waren. Dieser Vorschlag macht sich die Einsicht der Tiefenpsychologie zunutze, dass das Bewusstsein eines Menschen mehr umfasst, als er gewahr ist. Das gesamte Projekt der Psychoanalyse beruht auf der Tatsache, dass unser Verhalten in tiefen Quellen wurzelt, deren wir uns nur verschwommen, wenn überhaupt, bewusst sind. Man denke an eine Person, die an einer multiplen Persönlichkeitsstörung leidet. Hier haben wir ein sehr eindrückliches Beispiel für den Ausbruch unterbewusster Facetten eines individuellen Geistes in verschiedene Bewusstseinspersönlichkeiten.
In einigen Fällen besteht sogar eine dominierende Persönlichkeit, die sich all der anderen bewusst ist und weiß, was jede von ihnen weiß, aber von ihnen unerkannt bleibt. Hypnose bietet ebenso eine lebendige Demonstration der Realität des Unbewussten. Wie Charles Harris erklärt, kann man einer Person unter Hypnose bestimmte Fakten mitteilen und sie dann anweisen, diese Fakten zu vergessen, sobald sie „aufwacht“, aber, schreibt Harris, „...das Wissen ist wahrhaftig in ihrem Kopf und zeigt sich auf unmissverständliche Weise, insbesondere dadurch, indem es sie dazu bringt, …bestimmte Handlungen zu vollziehen, die sie, ohne dieses Wissen zu besitzen, nicht vollzogen hätte …“.
Viele von uns haben vielleicht bereits sehr amüsante Beispiele für dieses Phänomens im Fernsehen gesehen. Da wird beispielsweise ein junger Mann hypnotisiert, zu denken, dass ein Baum ein schönes Mädchen sei, dem er seinen Heiratsantrag machen möchte. Harris fährt fort:
“Was noch außergewöhnlicher ist, ein sensibles Hypnosesubjekt kann man gleichzeitig dazu bringen, dasselbe Objekt im gleichen Augenblick zu sehen und nicht zu sehen. Beispielsweise kann es angewiesen werden, einen Laternenpfahl nicht zu sehen, woraufhin es (im gewöhnlichen Sinne) ziemlich unfähig wird, ihn zu sehen. Dennoch sieht es ihn, weil es ihn vermeidet und nicht dazu verleitet werden kann, dagegen zu stoßen“.
In gleicher Weise erlaubte Gott, der Sohn, während seiner irdischen Inkarnation nur den Facetten Seiner Persönlichkeit Teil von Jesu Wachbewusstsein zu sein, die mit typischer menschlicher Erfahrung vereinbar waren, während der Großteil Seines Wissens wie ein Eisberg unterhalb der Wasseroberfläche in sein Unterbewusstsein getaucht ruhte. Nach dieser Theorie schlage ich vor, dass Christus somit eine Person ist, doch die bewussten und unbewussten Elemente dieser Person sind auf theologisch bedeutsame Weise voneinander getrennt. Anders als der Nestorianismus impliziert mein Versuch einer Erläuterung nicht, dass es zwei Personen gibt, genauso wenig wie die bewussten Aspekte Ihres Verstandes und die unbewussten Aspekte Ihres Verstandes zwei Personen darstellen.
Die Geburt Gottes – eine befriedigende Darstellung von Jesus als menschlich und göttlich
Solch eine Theorie bietet eine befriedigende Darstellung von Jesus, wie wir ihn in den Evangelien beschrieben sehen. In seiner bewussten Erfahrung nahm Jesus an Wissen und Weisheit zu, genauso wie ein menschliches Kind es auch tut. So vermeidet man die ungeheuerliche Vorstellung, dass das Baby Jesus in der Krippe liegt und währenddessen bereits schon über die Infinitesimalrechnung nachdenkt. Weil er ein typisches menschliches Bewusstsein besaß, musste Jesus gegen Furcht, Schwachheit und Versuchung kämpfen, um seinen Willen mit dem seines himmlischen Vaters in Übereinstimmung zu bringen. In seiner bewussten Erfahrung wurde Jesus echt versucht, auch wenn er in Wirklichkeit zur Sünde unfähig ist. Die Verlockungen der Sünde wurden wirklich empfunden und konnten nicht wie Rauch weggeblasen werden. Der Versuchung zu widerstehen, erforderte von Jesus geistliche Disziplin und moralische Entschlossenheit. In seinem Wachbewusstsein war Jesus tatsächlich einigen Fakten gegenüber unwissend, obwohl er durch das göttliche Unterbewusste vom Irrtum abgehalten und oft übernatürlich erleuchtet wurde. Obwohl Gott, der Sohn, alles Wissen über die Welt der Quantenmechanik bis hin zur Automechanik besitzt, gibt es keinen Grund anzunehmen, Jesus von Nazareth wäre fähig gewesen, ohne Rückgriff auf das göttliche Unterbewusste, Fragen zu solches Themen zu beantworten, so tief hatte Er sich erniedrigt, um menschliche Gestalt anzunehmen. Zudem erfuhr Jesus in seinem bewussten Leben die ganze Spannbreite menschlicher Ängste und fühlte körperlichen Schmerz und Müdigkeit. Mein Versuch einer Erläuterung bewahrt auch die Integrität und Aufrichtigkeit des Gebetslebens Jesu und erklärt, warum Jesus durch Leiden vollkommen gemacht werden konnte. Er musste, wie wir, Augenblick für Augenblick in Abhängigkeit von Seinem Vater sein, um in einer gefallenen Welt siegreich zu leben und erfolgreich die Mission zu erfüllen, die der Vater ihm gegeben hatte. Die Todesqualen im Garten Gethsemane waren kein reines Schauspiel, sondern stellten den echten Kampf des inkarnierten Sohnes in Seinem Wachbewusstsein dar. Alle traditionellen Einwände dagegen, dass Gott, der Sohn, das Bewusstsein Christi besitzt, schmelzen vor diesem Inkarnationsverständnis dahin, denn hier haben wir einen Jesus, der nicht nur göttlich ist, sondern der auch wahrhaftig am menschlichen Dasein teilhat.
Ist mein Vorschlag einer Theorie der Inkarnation also wahr? Ich denke, wir können nur sagen: Gott weiß! Es wäre anmaßend von mir, etwas anderes zu behaupten. Aber was ich behaupte, ist, dass die Theorie sowohl logisch schlüssig als auch bibelgetreu ist und darum möglicherweise wahr ist. Und wenn sie möglicherweise wahr ist, dann würde sie jeglichen Einwand gegen die Inkarnation entkräften, der besagt, es sei ein Widerspruch, dass Jesus Christus sowohl wahrer Gott als auch wahrer Mensch war.
Doch die Theorie tut noch etwas darüber hinaus, so denke ich. Sie dient auch dazu, Gottes Lob für seinen Akt der Erniedrigung in uns hervorzurufen, dafür dass er unser menschliches Dasein mit all seinen Schmerzen, Kämpfen und Begrenzungen um unser und um unserer Errettung willen auf sich nahm. Der Apostel Paulus schrieb: „…obwohl er reich ist, wurde er doch arm um euretwillen, damit ihr durch seine Armut reich würdet.“ (2 Kor 8,9). Das ist der Grund, weshalb wir Weihnachten feiern. Oder – wie es in den Worten des großen Liederdichters Martin Luthers heißt:
„Nun komm, der Heiden Heiland,
der Jungfrauen Kind erkannt,
dass sich wunder alle Welt,
Gott solch Geburt ihm bestellt.
Er ging aus der Kammer sein,
dem königlichen Saal so rein,
Gott von Art und Mensch, ein Held;
sein’ Weg er zu laufen eilt“.
William Lane Craig
(Übers.: B. Currlin)
Link to the original article in English: http://www.reasonablefaith.org/the-birth-of-god
-
[1]
Heinrich Denzinger, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, Freiburg 2007: Herder (41. Auflage 2007), S. 142f. (Nr. 301f).
Heinrich Denzinger, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, Freiburg 2007: Herder (41. Auflage 2007), S. 142f. (Nr. 301f).