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#684 Theorie des göttlichen Moralgebots und stellvertretende Sühne

July 04, 2020
F

Sehr geehrter Prof. Craig,

ich bin ein großer Fan von Ihnen und der zweite Leiter eines Reasonable Faith Chapters in Mexiko, und es begeistert mich, zusammen mit Ihnen erleben zu dürfen, wie die christliche Apologetik in Lateinamerika wächst und gedeiht, was vor allem daran liegt, dass Ihre Arbeiten jetzt auch auf Spanisch zugänglich sind. Der Herr sei gepriesen!

Ich habe eine Frage zur Vereinbarkeit der Lehre von der stellvertretenden Sühne mit der Theorie des göttlichen Moralgebots. Auf Seite 67 Ihres Buches über die Sühne formulieren Sie den möglichen Einwand gegen die Lehre von der stellvertretenden Sühne wie folgt:

  1. Gott ist vollkommen gerecht.
  2. Wenn Gott vollkommen gerecht ist, kann er keinen Unschuldigen bestrafen.
  3. Folglich kann Gott keinen Unschuldigen bestrafen.
  4. Christus war ein Unschuldiger.
  5. Folglich kann Gott Christus nicht bestrafen.
  6. Wenn Gott Christus nicht bestrafen kann, dann ist die Lehre von der stellvertretenden Sühne falsch.

Folglich gilt: Wenn Gott vollkommen gerecht ist, dann ist die Lehre von der stellvertretenden Sühne falsch.

Bezüglich Prämisse (2) erwähnen Sie als mögliche Erwiderung, dass wir diesen Einwand innerhalb einer metaethischen Theorie über die Begründung objektiver moralischer Werte und Pflichten betrachten müssen. Sie halten es dabei mit der Theorie des göttlichen Moralgebots, in welchem moralische Pflichten durch göttliche Imperative konstituiert werden, sodass es kein externes Moralgesetz gibt, dem Gott verpflichtet wäre; er ist an keine moralischen Pflichten gebunden, sondern kann sich stets so verhalten, wie es seinem Wesen entspricht. In Ihrer Erwiderung auf das Euthyphron-Dilemma[1] schreiben Sie: „Gottes Gebote an uns sind weder willkürlich noch gründen sie in etwas, das unabhängig von Gott wäre. Vielmehr ist Gott selber das Paradigma des Guten.“ Und an anderer Stelle: „Moralische Pflichten gründen in [Gottes] Willen bzw. Geboten . . . Sein Wille ist nicht unabhängig von seinem Wesen, sondern dessen notwendiger Ausdruck.“ Gottes Wille und Gebote müssen sein Wesen widerspiegeln – aber die Lehre von der stellvertretenden Sühne, so sie denn wahr ist, impliziert, dass es mit Gottes Wesen übereinstimmt, dass er einen Unschuldigen bestraft (wäre dies nicht so, wäre die Lehre von der stellvertretenden Sühne falsch).

Sie zitieren auch Hugo Grotius, der schrieb: „Auch dann, wenn Gott unter den Menschen ein System der Gerechtigkeit eingerichtet hat, welches die Bestrafung des Unschuldigen (und damit die stellvertretende Bestrafung) verbietet, ist ihm selber dergleichen nicht verboten.“ Wir haben gesehen, dass dieses Gerechtigkeitssystem das Wesen Gottes widerspiegelt, da sein göttliches Gebot und sein Wille eben dies sind – eine Widerspiegelung seines Wesens.

Ich habe den Eindruck, dass Sie hier beides auf einmal haben wollen. Einerseits impliziert die Lehre von der stellvertretenden Sühne, dass es Gottes Wesen entspricht, Unschuldige zu bestrafen. Doch andererseits entspricht es, betrachten wir seine Gebote für die Menschen, seinem Wesen, das Bestrafen von Unschuldigen zu verbieten. Wie kann es nicht ein Widerspruch sein, dass es Gottes Wesen entspricht, den Unschuldigen zu bestrafen (wie in der Lehre von der stellvertretenden Sühne), und dass gleichzeitig ein solches Bestrafen, betrachten wir sein Gerechtigkeitssystem für uns Menschen, seinem Wesen widerspricht?

Das Ganze erinnert mich an eine Aussage von C.S. Lewis: „Wenn Gottes moralisches Urteil sich so von dem unseren unterscheidet, dass unser ‚schwarz‘ sein ‚weiß‘ sein kann, dann kann es keine Bedeutung haben, wenn wir ihn gut nennen, denn der Satz ‚Gott ist gut‘ bedeutet unter der Annahme, dass seine Güte völlig anders ist als die unsere, lediglich so viel wie: ‚Gott ist – ich weiß nicht.‘“ Unser „schwarz“ lautet: „Es ist falsch, den Unschuldigen zu bestrafen“, während Gottes „weiß“ lautet (jedenfalls in manchen Fällen): „Es ist richtig, den Unschuldigen zu bestrafen.“ Oder habe ich hier irgendetwas übersehen?

Gott segne Sie und Jan!

Raul

Mexiko
 

 

[1] Die Bezeichnung dieses Dilemmas geht auf den Dialog Euthyphron des antiken Philosophen Platon zurück. Es geht um die Frage, ob etwas deswegen ethisch richtig ist, weil es dem Willen eines Gottes entspricht, oder ob es an und für sich, unabhängig von einem Gott, richtig ist. (Anm. d. Übers.)

Mexico

Prof. Craigs Antwort


A

Danke für Ihren Brief, Raul, und für die tolle Arbeit, die Sie im spanischsprachigen Lateinamerika leisten! Dies ist eine unerwartete Freude gewesen.

Die Bedeutung einer ethischen Theorie des göttlichen Moralgebots für den immer wieder zu hörenden Einwand gegen die Gerechtigkeit der Lehre von der stellvertretenden Sühne ist mir so richtig aufgegangen, als ich über diesen Einwand nachdachte. Wer sagt denn, dass es ungerecht ist, wenn Gott den Unschuldigen bestraft? Genauso wie es sein gutes Recht war, Abraham zu befehlen, seinen unschuldigen Sohn Isaak zu opfern, könnte er auch einen Unschuldigen bestrafen. Da Gott keinerlei moralischen Pflichten hat und selber darüber entscheidet, was richtig oder falsch, gerecht oder ungerecht ist, kommt dieser Standardeinwand gegen die Lehre von der stellvertretenden Sühne nicht aus dem Startloch heraus, ohne über die metaethische Grundlage moralischer Pflichten nachzudenken. Was für eine Theorie setzt dieser Einwand hier voraus? Diese Frage wird von den zeitgenössischen Kritikern nie gestellt.

Nehmen wir an, Gott hat befohlen, dass ein Mensch nicht einen anderen Menschen bestrafen kann, wenn dieser unschuldig ist, so wie er ja auch befohlen hat, dass ein Mensch nicht einen anderen töten darf, wenn dieser unschuldig ist. Aber Gott selber steht es durchaus frei, in einer bestimmten Situation einen Menschen zu töten, und es steht ihm genauso frei, in einer bestimmten Situation einen Unschuldigen zu bestrafen. Er ist an die Regeln, die er den Menschen gegeben hat, nicht selber gebunden. Ist hier ein Widerspruch? Sie schreiben: „Einerseits impliziert die Lehre von der stellvertretenden Sühne, dass es Gottes Wesen entspricht, Unschuldige zu bestrafen. Doch andererseits entspricht es . . . seinem Wesen, das Bestrafen von Unschuldigen zu verbieten. Wie kann es nicht ein Widerspruch sein, dass es Gottes Wesen entspricht, den Unschuldigen zu bestrafen . . . und dass gleichzeitig ein solches Bestrafen . . . seinem Wesen widerspricht?“ Sie formulieren hier einen Gegensatz, der nur scheinbar ist. Nehmen wir ein ähnlich gelagertes Beispiel: Es entspricht meinem Wesen, es meinen Kindern, solange sie noch klein sind, zu verbieten, allein in den Park zu gehen, aber es entspricht genauso meinem Wesen, dass ich selber allein in den Park gehe. Oder, um die Ähnlichkeit noch weiter zu treiben: Es entspricht meinem Wesen, dass ich es meinen Kindern verbiete, sich gegenseitig zu bestrafen, aber es entspricht ihm genauso, dass ich oder meine Frau sie gelegentlich bestrafen. Es liegt überhaupt kein Widerspruch darin, dass Gott an die Gebote, die er den Menschen auferlegt, selber nicht gebunden ist.

C.S. Lewis hat ohne Zweifel recht, wenn er sagt, dass wir wollen, dass in dem Satz „Gott ist gut“ „gut“ das bedeutet, was wir normalerweise mit diesem Wort verbinden. Für den nichtvoluntaristischen Anhänger der Theorie des göttlichen Moralgebots sind moralische Pflichten durch Gottes Willen bzw. Gebote konstituiert, während moralische Werte aus Gottes Wesen entspringen. Zu Gottes Wesen gehört es, dass er notwendigerweise liebevoll, barmherzig, großzügig etc. ist. Gibt es also etwas in Gottes Wesen, das ihn daran hindern würde, einen Unschuldigen zu bestrafen? Gehen wir einmal davon aus, dass Gottes Wesen es ihm nicht erlaubt, einen Menschen, der unschuldig ist, zu bestrafen. Aber wie steht es mit der Bestrafung einer unschuldigen göttlichen Person? Dies ist alles andere als selbstverständlich! Wie ich in meinem Buch The Atonement[1] schreibe: „Was könnte besser zu Gottes gnädigem Wesen passen, als dass er aus Liebe unser schwaches, gefallenes menschliches Fleisch annimmt und sein Leben opfert, um dem, was seine eigene Gerechtigkeit fordert, Genüge zu tun? Das Selbstopfer Christi preist das Wesen Gottes, indem es seine heilige Liebe demonstriert“ (S. 70). Ich vermag in Gottes Wesen nichts zu sehen, das ihn davon abhalten könnte, sich auf diese Art selber für uns zu opfern.

(Übers.: Dr. F. Lux)

Link to the original article in English: https://www.reasonablefaith.org/writings/question-answer/divine-command-theory-and-penal-substitution/

 

[1] William Lane Craig, The Atonement (Cambridge Elements: Philosophy of Religion, Cambridge University Press, 2018). (Anm. d. Übers.)

- William Lane Craig