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#664 Sind Theorien, die empirisch äquivalent sind, beide wahr (oder falsch)?

April 10, 2020
F

Sehr geehrter Prof. Craig,

ich möchte Ihnen erneut danken für Ihren großen Einsatz für die Sache des Evangeliums. In Ihrer Debatte mit Dr. Alex Rosenberg im Jahr 2013 erwähnten Sie, dass es „zehn verschiedene physikalische Interpretationen für die Quantenmechanik“ gibt sowie „drei verschiedene Interpretationen der speziellen Relativitätstheorie“, die „alle empirisch äquivalent sind und doch unterschiedliche Theorien, von denen jede eine legitime wissenschaftliche Theorie ist“.

Da hätte ich die folgende Frage:

1. Bedeutet dies, dass all diese verschiedenen Theorien den gleichen Wahrheitswert haben? Kann man sagen, dass sie alle gleich wahr sind?

2. Wenn die Antwort darauf „Nein“ ist, könnten Sie dann erklären, was Sie mit „empirisch äquivalent“ gemeint haben?

3. Wenn die Antwort auf 1. „Ja“ ist, wie passt das dann mit dem Gesetz der Widerspruchsfreiheit zusammen?

4. Gilt das Gesetz der Widerspruchsfreiheit für das gesamte Universum mit allem, was darin ist? Das würde mich sehr interessieren.

In Christus,

Jacob

India

Prof. Craigs Antwort


A

Zu 1): Beide Male ist die Antwort „Nein“. Es gibt immer noch Wissenschaftler, die vom Verifikationismus beeinflusst sind und glauben, dass zwei Theorien, die die gleichen empirischen Folgen haben, eigentlich ein- und dieselbe Theorie sind, die lediglich verschieden formuliert wird. Meine Position ist, dass zwei unterschiedliche Theorien, die die gleichen empirischen Folgen haben, trotzdem unterschiedliche Theorien sein können, weil sie unterschiedliche physikalische Strukturen postulieren. So hat z. B. eine Theorie, die die Existenz vierdimensionaler Objekte in der Raumzeit postuliert, eine ganz andere Sicht von der physischen Realität als eine Theorie, die von räumlich dreidimensionalen, aber durch die Zeit hindurch existierenden Objekten ausgeht. Der Verifikationismus unterschlägt diese fundamentalen Unterschiede und verzerrt so die Realitätsbeschreibungen der verschiedenen Theorien.

Zu 2): Unter „empirisch äquivalent“ versteht man, dass die Theorien die gleichen überprüfbaren Vorhersagen liefern. Es ist nicht möglich, durch Prüfen der wissenschaftlichen Fakten herauszufinden, welche der Theorien wahr oder falsch ist, weil sie beide die gleichen beobachtbaren Folgen zeitigen. In solch einer Bredouille hofft man natürlich immer, dass jemand neue Prüfverfahren entdeckt oder Vorhersagen trifft, anhand derer wir entscheiden können, welche der Theorien wahr ist. So sprechen z. B., wie ich in meinem Buch Time and Eternity (2001) ausführe, die experimentellen Folgen, was die Bell’sche Ungleichung betrifft, sehr stark für eine neo-Lorentz’sche (und nicht Einstein’sche) spezielle Relativitätstheorie, so man denn nicht zulassen will, dass relativ zu gewissen Bezugsrahmen Signale rückwärts durch die Zeit wandern.

Zu 3): Die Antwort auf 1) ist nicht „Ja“, sondern „Nein“.

Zu 4): Empirisch äquivalente Theorien führen also zu keiner Verletzung des Gesetzes der Widerspruchsfreiheit. Im Gegenteil: Wenn sie unterschiedliche physikalische Strukturen der Realität postulieren, kann höchstens eine von ihnen wahr sein. Die Gesetze der Logik und die Ableitungsgesetze sind unabhängig von der physikalischen Realität, da sie notwendig sind und a priori gelten; sie gelten in der Tat „für das gesamte Universum mit allem, was darin ist“.

- William Lane Craig