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#560 Noch einmal zur Erbsünde

September 30, 2018
F

Sehr geehrter Prof. Craig, 

vor kurzem wurden mir Ihre Videos und Ihre Arbeit vorgestellt, und es macht mir wirklich Freude, mich weiter damit auseinanderzusetzen. Es hat mich ebenfalls sehr gefreut, zu hören, dass Sie Ihren Doktortitel an der Universität Birmingham in England erworben haben, wo auch ich studiert habe. Ich bete dafür, dass Gott Sie weiterhin in Ihrer Arbeit und der Pflege der ausgezeichneten Website und Materialquelle führt, die Sie bei reasonablefaith.org geschaffen haben.

Meine Frage betrifft Ihre Antwort auf die Frage #549 zur Erbsünde. Ihre Antwort auf diese Frage fand ich sehr interessant, weil ich bisher noch keine überzeugende christliche Erwiderung darauf kannte, warum sich diese Lehre mit einem gerechten Gott vertragen sollte. 

Zur Rechtfertigung des Konzeptes der Erbsünde führen Sie als Parallele den rechtlichen Tatbestand der Haftung für fremdes Verschulden an. Mich als Rechtsanwalt hat es interessiert zu erfahren, wie Sie diesen Tatbestand im Rahmen dieser christlichen Lehre verwenden wollten. In Ihrer Antwort schreiben Sie: Man beachte, dass der Arbeitgeber in diesen Fällen nicht für eigene Vergehen geradestehen muss (wie Fahrlässigkeit oder Verletzung der Aufsichtspflicht über den Angestellten). Er selber kann völlig unschuldig sein, aber die Haftung oder Schuld des Angestellten wird ihm zugerechnet. Ihr Einwand ist also nicht spezifisch theologisch; das ganze westliche Justizsystem steht gegen ihn. Weiter schreiben Sie, dass das Haupt des Menschengeschlechts, Adam (Friede sei mit ihm) stellvertretend für uns vor Gott gehandelt hat. Sein Vergehen war unser Vergehen, weil er uns vor Gott vertrat. Wenn ich Sie richtig verstehe, sagen Sie damit, dass das Konzept der Haftung für fremdes Verschulden uns eine Parallele liefert, anhand derer wir verstehen können, wie Adams Fehler dazu führte, dass das Konto eines jeden Menschen mit dem Makel der Sünde belastet wurde. Darauf würde ich jedoch erwidern, dass diese Analogie falsch ist, weil Sie den Rechtsbegriff der Haftung für fremdes Verschulden nicht richtig dargestellt haben. Dieser lässt sich anhand des folgenden Zwei-Stufen-Tests erklären: 

  1. Betrachtung der Beziehung zwischen dem Haupttäter und der Person, die angeblich haftbar ist, und ob diese Beziehung geeignet ist, eine Haftung für fremdes Verschulden hervorzurufen. In diesem Zusammenhang muss die angebliche haftbare Person ein Recht, eine Möglichkeit oder eine Pflicht haben, den Haupttäter zu steuern. So etwas lässt sich in der Beziehung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer leicht finden, weswegen es oft im Arbeitsrecht Anwendung findet. 
     
  2. Ob die Verbindung zwischen dem Fehlverhalten und dem Grund für die Beziehung (d. h. die Arbeitsbeziehung) so eng ist, dass es fair und gerecht wäre, die betroffene Person für indirekt haftbar zu halten. (Beispielsweise würde ein von einem Arbeitnehmer während dessen Urlaubs begangenes Unrecht, das zu seinem Arbeitsverhältnis in keinerlei Beziehung steht, nicht zu einer Verurteilung des Arbeitgebers wegen Haftung für fremdes Verschulden führen.)
     

Unter Berücksichtigung dieses Beispiels zeigt eine erneute Betrachtung Ihrer Analogie mit Adam und der Haftung für fremdes Verschulden deren falsche Anwendung auf. 

  1. Bei Fällen von Haftung für fremdes Verschulden ist der „Missetäter“ derjenige in der „schwächeren“ Position, hier der Arbeitnehmer, und derjenige, der haftbar gemacht wird, ist der in der „stärkeren“ Position (hier besteht die Stärke in der Finanzkraft). In Adams und unserem Fall ist jedoch, wie Sie sagen, Adam „das Oberhaupt des Menschengeschlechts; Adam steht stellvertretend für uns vor Gott und handelt so an unserer Statt.“ Daher ist Adam klar derjenige in der stärkeren oder führenden Position. Eine Behandlung Adams nach dem Prinzip der Haftung für fremdes Verschulden wäre demnach dasselbe, wie wenn man den Arbeitnehmer für die Handlungen des Arbeitgebers zur Rechenschaft zöge! 
     
  2. Aufbauend auf (i): Die Lehre der Haftung für fremdes Verschulden wird nur dann für gerecht gehalten, wenn beide Teile des o.g. Zwei-Stufen-Tests zutreffen. Ich würde Sie darauf hinweisen, dass in der christlichen Lehre der Erbsünde weder der eine noch der andere Teil des Tests erfüllt wird. Denn weder sind wir (bzw. waren wir je) in der Lage, „ein Recht, eine Möglichkeit oder eine Pflicht“ zu haben, die Handlungen Adams zu „steuern“, noch besteht eine ausreichend enge Verbindung zwischen uns und ihm (das kann offensichtlich nicht der Fall sein, denn damals lebten wir nicht einmal). Wenn Sie nun behaupten, wie Sie das gegen Ende Ihrer Antwort tun, dass Gott in seinem ewigen und unendlichen Wissen wusste, dass wir genauso handeln würden wie Adam, wenn wir in seiner Position gewesen wären, dann steht das zu Beweisende bereits fest: Wenn Gott uns Sünde zurechnen kann im Wissen, dass wir etwas getan hätten, auch wenn wir keine Gelegenheit bekommen, diese Sünde tatsächlich zu begehen, ist das dann nicht ungerecht? Oder: Wenn er das einmal in dieser Situation tun kann, warum dann kann er nicht alle unsere Taten bereits vor der Ewigkeit gerichtet und uns direkt dem Himmel oder der Hölle zugewiesen haben?
     

Zum Schluss bitte ich Sie, auf Folgendes einzugehen: 

  1. Stimmen Sie mir zu, dass Ihr Versuch, die Lehre der Erbsünde mittels der Analogie der Haftung für fremdes Verschulden zu verteidigen, fehlerhaft ist? 
     
  1. Wenn Sie mit (a) nicht einverstanden sind, erklären Sie bitte, wie Sie die Verbindung zwischen den beiden (der Lehre der Erbsünde und der Analogie?) aufrechterhalten. Falls Sie darauf antworten, dass anhand der Haftung für fremdes Verschulden illustriert werden sollte, dass nach westlichem Recht unschuldige Dritte manchmal für die Handlungen anderer haftbar gemacht werden können, würde ich Ihnen zustimmen. Sie müssen jedoch noch die wahre Analogie beweisen, die, wie ich meine, sich wie folgt zusammenfassen lässt: Der Präsident der Vereinigten Staaten begeht ein Meineid. Der Richter verteilt an alle die Botschaft, dass in einem solch hohen Amt Meineid nicht toleriert werden kann, und bestimmt, dass jeder Mann, jede Frau und jedes Kind in den USA (ob bereits geboren oder nicht, jetzt und für alle Zeit) sofort zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt wird. 
     

Für mich als Christ ist das das Problem, dass Sie behandeln müssen. (In Ihrer Antwort auf die Frage führten Sie das Beispiel eines neuen Autos an, das von Adam kaputt gefahren wurde, das dann an jeden von uns weitergereicht wurde). Wiederum meine ich jedoch, dass diese Analogie zu kurz greift. Statt ein Geschenk zu sein, das uns in kaputtem Zustand von Adam übertragen wird, wird die Erbsünde besser als ein Mangel an freiem Willen verstanden, weil wir keine Wahl haben, wenn es um Sünde geht („non posse non peccare“, wie Sie sagen). Wie ist es dann gerecht, wenn Gott uns dies zurechnet, und nicht nur Adam? Wie rechtfertigen Sie unser Leid für seinen Fehler?) 

Ich hoffe, Sie können sich die Zeit nehmen, um meine Frage zu lesen und darauf zu antworten, denn ich weiß, dass viele Leute, Christen und Nichtchristen, dieselbe Frage haben.

Mit besten Grüßen, 

Rizwan

Großbritannien

United Kingdom

Prof. Craigs Antwort


A

Vielen Dank, Rizwan, für Ihre interessante Frage!  Ich möchte meinen Lesern empfehlen, dass sie sich Frage #549 noch einmal anschauen, bevor sie meine Antwort lesen. Eine Kenntnis der älteren Frage wird uns zu erkennen helfen, wie mangelnde Achtung auf mein Argument zu Fehldeutungen geführt hat. Um es kurz zu machen, gehen wir gleich zu Ihren Fragen.

(a) Stimmen Sie mir zu, dass Ihr Versuch, die Lehre der Ursünde mittels der Analogie der Haftung für fremdes Verschulden zu verteidigen, fehlerhaft ist? 

Ich stimme Ihnen nicht zu; Sie haben die Rolle missverstanden, die die Anführung der Haftung für fremdes Verschulden in meiner Argumentation spielt. Meine Antwort war auf eine sehr spezielle Frage gemünzt. Der Kern des Einwands des Lesers war „das ethische Problem meiner Verurteilung an der Stelle eines anderen,“ das er für „unlogisch“ hielt. Um diesem Einwand zu begegnen, führte ich ja die Haftung für fremdes Verschulden an, um zu zeigen, dass die Verurteilung einer Person für die Missetaten und Verbrechen eines anderen ein etablierter Teil westlicher Rechtssysteme ist. Wie ich dort sagte, steht also das ganze westliche Rechtssystem seinem Einwand entgegen.

Nur das wollte ich mit meiner Anführung der Haftung für fremdes Verschulden zeigen.  Ich gebrauchte sie nicht, um zu erklären oder zu rechtfertigen, dass die Sünde Adams uns zugerechnet wird. Sie soll einfach den Einwand, dass es unethisch und unlogisch ist, eine Person für die Missetaten anderer zu verurteilen, entkräften. Das war's.

Damit sind, wie Sie ganz richtig anmerken, die Missverhältnisse zwischen Haftung für fremdes Verschulden und Adams Beziehung zu uns irrelevant, da ich mich nicht auf die Haftung für fremdes Verschulden als Analogie für diese Beziehung berufen habe. Dagegen besteht zwischen Christus und uns sehr wohl eine Beziehung, aufgrund derer die Haftung für fremdes Verschulden als sehr enge Analogie der Zurechnung unserer Sünden dem Christus dienen kann, nämlich: (i) Christus als Gott tritt uns in der Beziehung des Vorgesetzten zum Nachgeordneten entgegen und: (ii) Christus hat als Gott das Recht und die Macht (nicht jedoch die Pflicht), unsere Missetat zu verhindern. Damit kann er an unserer Stelle für unsere Sünden haftbar gemacht werden. Sie werden aber – aufgrund ihres auffälligen Fehlens – bemerken, dass ich keine solche Behauptung über Adam und uns aufgestellt habe.

Wenn Sie also sehen wollen, wie ich es verteidige, dass uns die Sünde Adams uns zugerechnet wird, müssen Sie zum nächsten Absatz gehen, wo ich die Frage stelle: „Wie können wir es logisch einordnen, dass uns die Sünde Adams zugerechnet wird?“ Dort finden Sie zwei Punkte, die meine Verteidigung der Lehre der Erbsünde darstellen. Weder der eine noch der andere beruft sich auf die Haftung für fremdes Verschulden. Insbesondere führe ich nicht die Haftung für fremdes Verschulden an, um Adams Rolle als unser Stellvertreter vor Gott zu erklären. Haftung für fremdes Verschulden spielt ferner keine Rolle dabei, dass Gott weiß, was jeder von uns getan hätte, wenn wir in Adams Schuhen steckten (bildlich gesprochen!).

In Bezug auf das göttliche Wissen protestieren Sie wie folgt:

Wenn Gott uns Sünde zurechnen kann im Wissen, dass wir etwas getan hätten, auch wenn wir keine Gelegenheit bekommen, diese Sünde tatsächlich zu begehen, ist das dann nicht ungerecht? Oder: Wenn er das einmal in dieser Situation tun kann, warum dann kann er nicht alle unsere Taten bereits vor der Ewigkeit gerichtet und uns direkt dem Himmel oder der Hölle zugewiesen haben?

Das beruht auf einem Missverständnis, Rizwan. In der Diskussion darüber, wie Gott die Nicht-Evangelisierten richtet, habe ich sehr wohl gesagt, dass ich nicht glaube, dass es von Gott gerecht wäre, uns für Taten zu richten, die wir getan hätten aber in Wirklichkeit nicht taten. Also verurteilt Sie Gott nicht, weil Sie dasselbe wie Adam getan hätten, wenn Sie an seiner Stelle dort gewesen wären.  Vielmehr wollte ich sagen, dass aufgrund des mittleren Wissens Gottes keiner darüber klagen kann, dass Adam ihn vor Gott falsch darstellte. Keiner kann ihm kommen mit „Ja, aber ich hätte die Frucht nicht gegessen!“ Gott weiß, dass Sie sie gegessen hätten. Meine Schlussfolgerung war: „Adam war also als unser Stellvertreter vor Gott genau der Richtige!

(b) Wenn Sie mit (a) nicht einverstanden sind, erklären Sie bitte, wie Sie die Verbindung zwischen den beiden aufrechterhalten. Falls Sie darauf antworten, dass die Haftung für fremdes Verschulden illustrieren sollte, dass nach westlichem Recht unschuldige Dritte manchmal für die Handlungen anderer haftbar gemacht werden können, würde ich Ihnen zustimmen. Sie müssen jedoch noch die wahre Analogie beweisen, die, wie ich meine, sich wie folgt zusammenfassen lässt: Der Präsident der Vereinigten Staaten begeht ein Meineid. Der Richter verteilt an alle die Botschaft, dass in einem solch hohen Amt Meineid nicht toleriert werden kann, und bestimmt, dass jeder Mann, jede Frau und jedes Kind in den USA (ob bereits geboren oder nicht, jetzt und für alle Zeit) sofort zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt wird.  

Weder stimme ich (a) zu, noch behaupte ich, dass es überhaupt eine Verbindung zwischen Haftung für fremdes Verschulden und der Zurechnung der Sünde Adams gibt. Sie haben mein Argument nicht sorgfältig genug gelesen. Ihre Analogie mit dem Präsidenten ist fehlerhaft, denn sie erfüllt keine der beiden Bedingungen, die ich für die gerechte Zurechnung der Sünde Adams setze:  Weder vertritt der Präsident mich, noch weiß Gott, dass ich dasselbe getan hätte, wäre ich in der Lage des Präsidenten gewesen.

Die Antwort auf die Frage in Ihrem letzten Absatz, „Wie dann ist es für Gott gerecht, dies uns zuzurechnen und nicht nur Adam? Wie rechtfertigen Sie unser Leid für seinen Fehler?“ ist gerade meine Antwort auf Question #549, wenn man diese einmal richtig verstanden hat.

Übers.: R. Booker

Link to the original article in English: https://www.reasonablefaith.org/writings/question-answer/original-sin-once-more/

- William Lane Craig