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#252 Moslemische Wertschätzung des kalām-kosmologischen Arguments

May 06, 2015
F

Sehr geehrter Prof. Craig,

ich hoffe und bete aufrichtig, dass dieser Brief Sie erreicht. Ich bin kein Christ, sondern Moslem. Stellen Sie sich meine Überraschung vor, als ich auf einen christlichen Philosophen stieß, der Imam Al-Ghazali in seiner brillanten Diskussion und Widerlegung prominenter “neuer” Atheisten respektiert und verwendet! Obwohl ich als Heranwachsender viel von Imam Ghazalis Argumenten gelernt habe, hatte ich sie niemals mit moderner Wissenschaft verbunden gesehen, wie Sie dies in Ihrem meisterhaften Argument in Ihrer Arbeit darlegen. Ich bin sehr beeindruckt und danke Gott, dass Er uns einen Mann wie Sie schenkt, um Seinen Namen in solch herausfordernden Zeiten zu verteidigen.

Meine Frage bezieht sich auf die zweite Prämisse des kalām-kosmologischen Arguments: Das Universum begann zu existieren. Viele Atheisten halten an Theorien eines ewigen Universums fest, egal wie unhaltbar sie sind. Bisher gibt es jedoch leider keine einfache Erklärung dafür, weshalb diese Theorien unhaltbar sind. Selbst, wenn dies jedoch so wäre, so glaube ich, dass Dr. Dennett recht hat, wenn er sagt, nur weil etwas unwahrscheinlich und absurd erscheint, bedeutet dies nicht, dass es unmöglich ist. So habe ich festgestellt, dass dieses Argument leider für viele Atheisten nicht überzeugend ist.

So betete ich um Führung und dachte über das Thema nach. Ich fragte mich, ob wir nicht behaupten können, dass das Konzept eines „Jetzt“ in sich schon einen Anfangspunkt voraussetzt. Nehmen Sie z. B. das folgende Argument:

1. Alles, was ein “Jetzt” in der Zeit hat, muss einen Anfang haben.

2. Unser Universum hat ein „Jetzt“ in der Zeit.

3. Deshalb muss unser Universum einen Anfang haben.

Ich begann darüber nachzudenken, dass in unserer Diskussion über eine unendliche Vergangenheit unser Konzept von Vergangenheit weitgehend von unserer Sicht des “Jetzt” geprägt ist. Wie kann jedoch eine unendliche Vergangenheit jemals ein Jetzt erreichen, da es doch kein Ende für unendliche vergangene Ereignisse gibt, die sie durchlaufen muss? Deshalb trägt eine Idee des „Jetzt“ den Gedanken in sich, dass es einen Anfang gibt. Die Zeit muss beginnen; dies beinhaltet ein Konzept von Zeit.

Es tut mir leid, wenn ich damit nichts Neues sage, aber ich fand es wichtig, dies mitzuteilen. Nochmals vielen Dank für Ihre Arbeit. Ich weise viele muslimische Jugendliche auf Ihre Webseite hin. Sie ist, meiner Meinung nach, die hilfreichste Ressource zur Verteidigung Gottes. Wenn wir uns auch in der Auffassung über die Göttlichkeit des von uns beiderseits geliebten Christus unterscheiden, so hoffe ich doch, dass Muslime und Christen sich miteinander als Anbeter desselben Gottes und Früchte vom selben heiligen abrahamitischen Baum, ein Band der Liebe und des Verständnisses teilen können. Ich glaube, dass dies in unserer Zeit, die am Rande des Nihilismus steht, besonders wichtig ist. Hoffentlich wird die Welt sich dann, wenn sich Nietzsches Vorhersagen über die Verzweiflung, zu der Nihilismus führt, erfüllen, noch einmal Gott zuwenden. Bis dorthin müssen wir Gläubigen jedoch zusammenhalten und einander trösten. Möge Gott uns alle leiten und uns alle unter dem Mantel Seiner unendlichen Barmherzigkeit einhüllen.

Hochachtungsvoll,

Muhammed

United States

Prof. Craigs Antwort


A

Ich habe während der letzten Jahre zunehmend bemerkt, Muhammad, wie viele Muslime meine Arbeiten lesen und wertschätzen. Vor Kurzem erhielt ich z. B. eine Frage der Woche von einem Akademiker in Pakistan. Er teilte mir mit, meine natürliche Theologie habe eine Hauptstütze dafür gebildet, dem Einfluss des Neuen Atheismus in den dortigen Universitäten zu widerstehen! Ich muss zugeben, dass ich über diese unerwartete Entwicklung etwas gemischte Gefühle hege. Ich möchte nicht, dass mein Vermächtnis einmal darin besteht, dass ich mithalf, die nächste Generation muslimischer Apologeten auszurüsten! Ich kann nur beten, dass auch Christen von meiner Verteidigung des Theismus profitieren und dass Muslime auch aufrichtig die Stärke meiner Argumente für die Verteidigung von Jesu Tod und Auferstehung bedenken!

Auf jeden Fall haben wir jedoch einen gemeinsamen philosophischen Helden in al-Ghazali! Als wir uns im Mai dieses Jahres in Jerusalem aufhielten, war ich freudig überrascht, als ich entdeckte, dass direkt an der Hinterseite des Tempelberges ein kleines Schild mit dem Namen „Ghazali-Platz“ hängt! Da musste ich mich einfach unter dem Schild fotografieren lassen!

Ich denke, dass das von Ghazali vorgebrachte Argument heute sogar noch stärker ist als zu der Zeit, als er es schrieb. Bevor ich auf Ihr Argument in Bezug auf die zweite Prämisse eingehe, dass das Universum zu existieren begann, erlauben Sie mir, einige Worte zu Ihren Bedenken gegenüber diesem Argument zu sagen.

Zunächst bin ich sehr überrascht über Ihren Kommentar, dass “es bisher leider noch keine einfache Erklärung dafür gibt, warum [Theorien eines ewigen Universums] unhaltbar sind.“ Sie haben offensichtlich noch nicht den von Jim Sinclair mitverfassten Artikel in dem Buch Blackwell Companion to Natural Theology (Blackwell, 2009) gelesen. Er liefert einen breiten Überblick über solche Theorien und erklärt, weshalb keines dieser Modelle ein schon ewig existierendes Universum zeigen kann. Haben Sie mitbekommen, dass vor Kurzem auf der Konferenz in Cambridge zu Ehren von Steven Hawkings 70. Geburtstag Alexander Vilenkin die Ergebnisse einer neuen Arbeit präsentierte? Mit ihr schließt er die Tür für zwei weitere Modelle, von denen manche erhofften, dass sie den absoluten Anfang des Universums widerlegen können („Why Physicists Can’t Avoid a Creation Event“ [Warum Physiker an einem Schöpfungsereignis nicht vorbeikommen], New Scientist [11. Januar, 2012].

Laut Vilenkin “bezeugen alle Indizien, die wir haben, dass das Universum einen Anfang hatte”. Denken Sie einen Augenblick über diese Aussage nach. Das heißt nicht nur, dass die Indizien für den Anfang des Universums zahlreicher sind als die Indizien, dass das Universum ewig ist. Es bedeutet vielmehr, es gibt keine Indizien dafür, dass das Universum ewig ist. Alle Indizien weisen darauf hin, dass das Universum zu existieren begann. Der Autor des New Scientist Artikels sagte, dass Vilenkins Arbeit für Hawking „das übelste Geburtstagsgeschenk aller Zeiten“ darstellte. Hawking hatte noch kurz vor der Konferenz eine Rede aufgenommen, in welcher er erklärte: „Ein Zeitpunkt der Schöpfung wäre ein Ort, an dem die Wissenschaft versagt. Man müsste sich dann an die Religion und die Hand Gottes wenden.“

Was Dennetts Antwort betrifft, so denkt niemand, dass ein überzeugendes Argument Zustimmung erzwingen muss. Wäre dies der Fall, dann gäbe es ziemlich wenige gute Argumente für irgendetwas. Bei dem Podiumsgespräch zwischen Dennett und mir vor ein paar Jahren in New Orleans auf der Greer-Heard Konferenz hatte er nichts gegen meine Argumente und Beweise zur Unterstützung der zwei Prämissen des Arguments vorzubringen. Das Einzige, was er zu sagen hatte, war: Wenn plausible Prämissen logisch zu einem Schluss führen, von dem du sicher weißt, dass er falsch ist, dann musst du einen Schritt zurückgehen und eine der beiden Prämissen ablehnen, ganz egal, wie plausibel sie ist! Das ist ein Fehlschluss einer petitio principii zugunsten des Atheismus: Es wird einfach unterstellt, dass der Atheismus wahr ist, anstatt Gründe dafür zu nennen. Denn in diesem Fall wurden keine Gründe angeführt, warum die Konklusion des Arguments für den Anfang des Universums falsch sei.

Was Ihr Argument betrifft, so habe ich vor einigen Jahren eine Arbeit mit dem Titel „Warum ist es Jetzt?“ [Ratio 18 (2000):115-122] veröffentlicht, in der ich genauso argumentiert habe! Wenn das Universum schon ewig existiert, warum stellt dann von allen Zeitmomenten ausgerechnet 2012 das „Jetzt“ dar? Warum nicht ein früherer oder späterer Augenblick? Ich war fasziniert, dass der Philosoph Stephen Priest, in seiner Antwort auf meine kürzlich gehaltene Vorlesung am Sheldonian Theater in Oxford, damit kämpfte, dieselbe Frage zu formulieren, und sie als eine der tiefsten philosophischen Fragen bezeichnete. Er gab die Frage, wie ich denke, falsch wider, indem er sie so formulierte: „Warum ist es jetzt jetzt?“ Diese Frage ist trivial, denn wann sonst könnte es jetzt sein als jetzt? Natürlich ist es jetzt jetzt! Doch die Frage lautet in Wirklichkeit: „Warum ist 2012 jetzt?“ Indem wir einen Anfang für die Zeit postulieren, sind wir in der Lage zu antworten, dass wir jetzt das Jahr 2012 haben, denn soviel Zeit ist seit dem Anfang vergangen – eine Antwort, die nicht zutrifft, wenn das Universum schon ewig existiert.

Beachten Sie, dass dieses Argument sich von Ihrer Sorge unterscheidet “Wie kann eine unendliche Vergangenheit jemals ein Jetzt erreichen, da es doch kein Ende unendlicher vergangener Ereignisse gibt, durch die es hindurchgehen muss?” Diese Überlegung unterstützt sogar mein zweites philosophisches Argument für den Anfang der Vergangenheit. Es wurde von Ghazali abgeleitet und hat in Immanuel Kants Erster Antinomie der Zeit Unsterblichkeit erlangt. Es ist ein anderes Argument als das, welches Sie hier zur Sprache bringen.

Prämisse (2) Ihres Argumentes wird von denjenigen geleugnet werden, die eine zeitliche Sicht der Zeit zugunsten einer zeitlosen Sicht der Zeit verwerfen. Letzterer Ansicht nach ist „jetzt“ nicht objektiver als „hier“. Die Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, so werden manche sagen, ist eine subjektive Illusion des menschlichen Bewusstseins. Alle Ereignisse in der Zeit sind gleichermaßen real. Somit sei es falsch, dass unser Universum ein Jetzt in der Zeit habe.

Dies ist kein Defizit Ihres Argumentes, nur etwas, dessen Sie sich bewusst sein müssen. Ich habe ausführlich zur Verteidigung der „zeitlichen Theorie der Zeit“ geschrieben und verweise Sie auf diese Arbeiten (The Tensed Theory of Time: A Critical Examination, Synthèse Library 293 [Dordrecht: Kluwer Academic Publishers, 2000]; The Tenseless Theory of Time: A Critical Examination, Synthèse Library 294 [Dordrecht: Kluwer Academic Publishers, 2000].

Für eine allgemein verständliche Abhandlung des Themas siehe Time and Eternity: Exploring God’s Relationship to Time [Wheaton, Ill.: Crossway, 2001]). Somit denke ich, dass Ihre Prämisse (2) sehr plausiblerweise wahr ist.

Herzlichen Dank für Ihre freundlichen Kommentare und guten Wünsche!
 

Link to the original article in English: http://www.reasonablefaith.org/muslim-appreciation-of-the-kalam-argument

(Übers. B. Currlin)

- William Lane Craig