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#586 Mittleres Wissen und der Herkunftsessentialismus

March 24, 2019
F

Sehr geehrter Prof. Craig,

Sie setzen sehr viel auf Gottes Fähigkeit, seine erschaffene Erde „providenziell anzuordnen“, sodass diejenigen, die das Evangelium annehmen werden, unter temporalen und geographischen Umständen leben, die es ihnen ermöglichen, das Evangelium zu hören. An die vielen Orte, die vom Evangelium nicht erreicht würden (sagen wir zum Beispiel Tibet im 2. Jahrhundert), hat Gott nur die Menschen gesetzt, von denen er (aufgrund seines mittleren Wissens) wusste, dass sie das Evangelium nie annehmen würden. Das wirft einige schwerwiegende Fragen zur persönlichen Identität auf. Anscheinend hatte Gott dann nämlich vor seinem Schöpfungsdekret die Flexibilität, eine bestimmte Essenz in Tibet oder Texas zu platzieren – je nachdem wie diese Essenz, wenn sie einmal als Person dort platziert war, auf das Evangelium reagieren würde. Doch wie wäre diese Essenz dieselbe Person – ob im alten Tibet oder in Texas platziert? Und was ist mit dem Herkunftsessentialismus?[1] Wären wir dieselben Personen wie jetzt, wenn wir andere Eltern hätten? Oder anders gefragt: Was würde der Satz „Ich hätte ein Tibeter im 2. Jahrhundert sein können“ für mich bedeuten? Ohne eine Antwort hierauf fällt Ihre gesamte Verteidigung der Hölle auseinander. Ich habe versucht herauszufinden, wo Sie das in Ihren Veröffentlichungen ansprechen, habe aber nichts gefunden. Habe ich es einfach übersehen? Danke. Ich freue mich wirklich auf Ihre Gedanken zu diesem wichtigen Thema.

Steve

 

[1] En.: „essentialism of origins“ – Anm. d. Übers.

United States

Prof. Craigs Antwort


A

Bevor ich Ihre Frage beantworte, Steve, möchte ich bloß sicherstellen, dass meine Ansicht korrekt wiedergegeben wird. Vereinfacht gesagt, ist es wahr, dass „diejenigen, die das Evangelium annehmen werden,… das Evangelium … hören werden.“ Die Frage ist aber, ob diejenigen, die das Evangelium annehmen würden, das Evangelium hören werden. Es ist von größter Wichtigkeit, dass wir in Diskussionen dieser Art zwischen Sätzen im Indikativ und Sätzen im Konjunktiv unterscheiden. Wir beschäftigen uns hier mit Konditionalsätzen im Konjunktiv wie „Wenn Ali das Evangelium gehört hätte, dann hätte er es angenommen.“ Wird meine Ansicht richtig verstanden, behaupte ich also nicht, dass diejenigen, die das Evangelium akzeptieren würden (wenn sie es hören würden), zu einer Zeit und an einem Ort geboren werden, wo sie es auch hören. Es gibt vielleicht Menschen, die das Evangelium nie hören und allein aufgrund ihrer Reaktion auf Gottes allgemeine Offenbarung in der Natur und im Gewissen gerettet werden, die aber das Evangelium auch angenommen hätten (wenn sie es gehört hätten) und gerettet worden wären.

Ich behaupte auch Folgendes nicht: „An die Orte, die vom Evangelium nicht erreicht würden (sagen wir zum Beispiel Tibet im 2. Jahrhundert), hat Gott nur die Menschen gesetzt, von denen er (mittels seines mittleren Wissens) wusste, dass sie das Evangelium nie annehmen würden.“ Ganz im Gegenteil: Wie im vorhergehenden Absatz deutlich wurde, gibt es vielleicht Menschen, die das Evangelium nie hören, es aber angenommen hätten, wenn sie es gehört hätten. Mein Vorschlag lautet vielmehr: Menschen, die das Evangelium nie hören und die allgemeine Offenbarung ablehnen, hätten das Evangelium auch dann nicht akzeptiert, wenn sie es gehört hätten.

Was Sie den „Herkunftsessentialismus“ nennen, stützt meine Ansicht sogar, anstatt sie zu untergraben! Der Herkunftsessentialismus ist die These, dass jemandes Abstammung essentiell für seine persönliche Identität ist. Dieser Ansicht nach hätte ich also nicht von anderen Eltern abstammen können. Ich bin skeptisch, was diesen Essentialismus angeht, weil ich glaube, dass die Seele dem Körper nicht eigen ist. Ich bin nicht mein Körper. Ich bin vielmehr eine Seele mit diesem bestimmten Körper. Ich hätte auch einen anderen Körper haben können. Gott hätte meine Seele, denke ich, auch in den Körper eines schwarzen Afrikaners oder eines Indonesiers oder eines Europäers im Mittelalter legen können.

Dies gibt Gott viel Flexibilität in Bezug auf meine historischen und geographischen Umstände. Wenn ich ein Mensch bin, der das Evangelium in den jetzigen Umständen nicht akzeptieren würde, wenn er es hören würde, dann weiß Gott, was passieren würde, wenn er meine individuelle Essenz als kenianisch oder brasilianisch machen würde. Vielleicht könnte er Umstände finden, in denen ich das Evangelium freiwillig akzeptieren würde (wobei das die Welt vielleicht anderweitig in Unordnung bringt).

Doch wenn der Herkunftsessentialismus wahr ist, dann ist Gottes Hand wirklich eingeschränkt! In diesem Fall muss ich genau dieselben Vorfahren haben wie jetzt. Gott kann meine Seele dann nicht einfach in irgendeinen Körper legen. Ich muss genau diese beiden Eltern haben, und die müssen wiederum genau ihre Eltern haben usw. bis zurück zum Anfang. Gott könnte mich dann nur in, sagen wir, Brasilien platzieren, wenn er einige meiner Vorfahren dazu bringt, dorthin zu ziehen. Aber die Option, zu sehen, was passieren würde, wenn ich ein Eskimo oder der Sohn von D.L. Moody wäre, hat er dann nicht. Ausgehend vom Essentialismus der Ursprünge sind Gott also in Bezug auf meine Vorfahren die Hände gebunden. Viele der nach meiner Sicht für Gott machbaren Welten wären dann nicht mehr machbar für Gott und sind somit irrelevant. So ist es, aufgrund des Herkunftsessentialismus, viel plausibler, dass diejenigen, die das Evangelium nie hören und verloren gehen, das Evangelium auch dann nicht geglaubt hätten, wenn sie es gehört hätten.

(Übers.: J. Booker)

Link to the original article in English: https://www.reasonablefaith.org/writings/question-answer/middle-knowledge-and-the-essentialism-of-origins

- William Lane Craig