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#165 Leitet die theistische Ethik das „Sollen“ vom „Sein“ ab?

February 15, 2019
F

Sehr geehrter Prof. Craig,

wie so viele andere möchte ich meine Frage damit beginnen, Ihnen für Ihre rationale Verteidigung des christlichen Glaubens und Ihr Christus-ähnliches Beispiel zu danken, die mich auf meinem geistlichen Weg ermutigen. In den vergangenen fünf Jahren waren Sie für mich ein intellektuelles Vorbild. In dieser Zeit bin ich mit dem moralischen Argument für Gottes Existenz vertraut geworden, das Sie verteidigen. Obwohl dieses Argument mir intuitiv plausibel erscheint, sehe ich mich bei folgenden vier Fragen nicht in der Lage, eine Antwort zu geben:

1. Leitet eine theistische Rechtfertigung der Moral ein „Sollen“ von einem „Sein“ ab? Der Theist begründet moralische Werte letztlich mit der Unwandelbarkeit des Wesens Gottes. Aber das scheint der Aussage gleichzukommen, dass weil Gott in einer bestimmten Weise ist, wir uns in einer bestimmten Weise verhalten sollten. Leitet man damit also nicht ein „Sollen“ von einem „Sein“ ab?

2. Wie sollte ein Verfechter des moralischen Arguments „richtig“ und „falsch“ definieren? Die erste Prämisse des moralischen Arguments stellt fest, dass es, wenn Gott nicht existiert, auch keine objektiven moralischen Werte gibt. Außerdem definieren Sie „objektive moralische Werte“ als „Werte, die unabhängig davon, was irgendjemand glaubt, richtig oder falsch sind“. Daher scheint mir, dass die Wahrheit der ersten Prämisse davon abhängt, was mit „richtig“ und „falsch“ gemeint ist. An anderer Stelle definieren Sie „richtig“ und „falsch“ im Sinne der Gebote Gottes. Aber wenn ein Verfechter des moralischen Arguments „richtig“ und „falsch“ so definiert, wird das Argument doch zirkulär - man setzt voraus, was man eigentlich noch beweisen müsste (Fehlschluss "petitio principii"). Gleichzeitig kann ein Verfechter des moralischen Arguments aber keine naturalistische Definition für „richtig“ und „falsch“ bieten, wenn es beispielsweise um Dinge geht, „die zum Überleben förderlich sind“. Denn da es objektive Fakten darüber gibt, was zum Überleben förderlich ist, könnten Dinge, die zum Überleben förderlich sind oder nicht, ungeachtet der Überzeugungen anderer moralisch richtig oder falsch sein und somit – nach Ihrer Definition – objektive moralische Werte darstellen. Aber ein solches naturalistisches Verständnis moralischer Werte braucht sich nicht auf Gott zu berufen; würde man „richtig“ und „falsch“ also so definieren, dann wäre die erste Prämisse des moralischen Arguments falsch. Wie sollte deshalb ein Verfechter des moralischen Arguments „richtig“ und „falsch“ definieren, damit das Argument nicht einfach voraussetzt, was noch zu beweisen wäre (petitio principii), und dabei auch keine naturalistischen Definitionen zulässt?

3. Ist das moralische Argument wirklich gute natürliche Theologie? Ich denke, die zweite Prämisse des moralischen Arguments ist nicht nur wahr, sondern offensichtlich wahr. Wie Sie, Prof. Craig, bin ich der Meinung, dass der Glaube an objektiv moralische Werte eine berechtigterweise basale Überzeugung ist: Es ist einfach zu erkennen, dass manche Dinge tatsächlich richtig und falsch sind. Aber wenn ein Vertreter des moralischen Arguments „richtig“ und „falsch“ in irgendeiner Weise nicht-naturalistisch definiert, scheint mir weniger klar zu sein, dass eine solche Überzeugung berechtigterweise basal erworben werden kann. Wie J. L. Mackie erklärte, sind beobachtete, nicht-naturalistische moralische Werte "seltsame Entitäten"; und während ein geschulter Philosoph vielleicht an solche moralischen Werte denkt, wenn er etwas als richtig oder falsch beurteilt, ist das, wie mir scheint, bei einem Laien ganz plausibel nicht der Fall. Somit scheinen wir von nicht-naturalistischen moralischen Werten keine echten basalen Überzeugungen haben zu können. Doch nur, wenn es diese nicht-naturalistischen moralischen Werte sind, die wir alle in der Welt anerkennen, ist das moralische Argument gute natürliche Theologie. Woher wissen wir nun, dass die moralischen Werte, die wir alle in der zweiten Prämisse bestätigen, dieselben moralischen Werte sind, die in der ersten Prämisse nicht-naturalistisch definiert werden? Das heißt, woher wissen wir, dass wir nicht stattdessen in Wirklichkeit irgendwelche reduktiv natürlichen moralischen Werte bekräftigen?

4. Folgt aus der Existenz von objektiven moralischen Werten, dass das Universum einen Zweck hat? Beim Nachdenken über die erste Prämisse des moralischen Arguments bin ich zu etwas gelangt, das mir ein plausibles Argument dafür zu sein scheint. Dieses Argument lautet wie folgt:

1. Wenn Gott nicht existiert, besteht das Universum ohne Sinn und Zweck.

2. Wenn das Universum ohne Sinn und Zweck besteht, dann existieren keine objektiven moralischen Werte.

3. Somit existieren objektive moralische Werte nicht, wenn Gott nicht existiert.

Ich denke, die meisten Atheisten würden der ersten Prämisse zustimmen; es ist also die zweite Prämisse, die für das Argument entscheidend ist. Ich muss jedoch zugeben, dass ich diese Prämisse nur auf intuitiver Basis plausibel finde. Ich sehe einfach nicht, wie man sagen kann, dass das Universum ohne Sinn und Zweck existiert, um dann im selben Atemzug zu behaupten, dass es Arten und Weisen gibt, wie wir uns verhalten sollen. Denn in einem Universum ohne Sinn sollte ich eigentlich nicht hier sein; es ist einfach ein Zufall, dass ich bin. Aber wenn ich nicht hier sein sollte, wie kann es dann objektive Arten und Weisen geben, wie ich mich verhalten sollte? Oder, allgemeiner formuliert: Wenn die Menschheit nicht hier sein sollte, wie kann es dann objektive Arten und Weisen geben, wie Menschen sich verhalten sollten? Die Tatsache, dass es objektive Arten und Weisen gibt, wie wir uns verhalten sollten, scheint also vorauszusetzen, dass wir schließlich doch hier sein sollen; das Universum ist nicht ohne Sinn und Zweck. Doch wenn Gott nicht existierte, wäre es ohne Sinn und Zweck. Somit scheinen objektive Verhaltensmaßstäbe (d.h. objektive moralische Werte) als Beweis für Gottes Existenz zu gelten. Erscheint Ihnen dies plausibel? Eine kritische Beurteilung meines Arguments und der Intuitionen, auf denen es beruht, würde ich sehr schätzen.

Ich danke Ihnen im Voraus für jede Hilfe, die Sie mir zu diesen Fragen geben könnten, und danke für alle Hilfe, die Sie mir im Lauf der Jahre schon gegeben haben.

Charles

United States

Prof. Craigs Antwort


A

Es ist Ihre erste Frage, die ich am aller interessantesten finde, Charles. Diese Frage betrifft nicht nur natürliche Theologen, sondern jeden, der eine ethische Theorie vertritt, welche Moral in Gott begründet.

Das moralische Argument als solches unternimmt keinen Versuch, eine Begründung der Moral in Gott zu erklären. Es trifft nur zwei Feststellungen:

1. Wenn Gott nicht existiert, existieren keine objektiven moralischen Werte.

2. Objektive moralische Werte und Pflichten existieren.

Die zwei Prämissen schließen Gottes Existenz ein, ziehen aber keine Theorie darüber nach sich, wie moralische Werte und Pflichten mit Gott zusammenhängen. Der Theist, der dieses Argument verteidigt, hat also eine ganze Reihe von Optionen, die ihm offenstehen.

Die Theorie, die ich verteidigt habe, ist eine Form der "Divine-Command"-Theorie. Nach dieser Auffassung werden unsere moralischen Pflichten durch die Gebote eines essentiell gerechten und liebenden Gottes bestimmt. Mir scheint, dass diese Theorie tatsächlich ein „Sollen“ aus einem „Sein“ ableitet, und zwar mit gutem Grund – wenn auch nicht so, wie Sie es sich vorstellen. Die Theorie begründet, wie Sie sagen, moralische Werte in der unwandelbaren Natur Gottes. Gott ist das Paradigma der Güte. Aber damit ist nicht gesagt, dass „weil Gott in einer bestimmten Weise ist, wir uns in einer bestimmten Weise verhalten sollten“. Nein, unsere moralischen Verpflichtungen und Verbote ergeben sich aus den Geboten Gottes an uns. Gottes Natur dient dazu, Werte zu etablieren – was gut und was schlecht ist –, während Gottes Gebote moralische Pflichten bestimmen – was wir tun oder nicht tun sollten. Eine Begründung moralischer Werte in Gott leitet genauso wenig ein „Sollen“ aus einem „Sein“ ab wie Platons Begründung moralischer Werte in der Idee des Guten (tatsächlich ist einer meiner Kritikpunkte gegen den moralischen Platonismus genau dieses Versäumnis, irgendeine Grundlage für moralische Verpflichtung zu bieten). Der Theist und Platon haben einfach einen anderen ontologischen Endpunkt.

Wie leitet nun die Divine-Command-Theorie ein „Sollen“ von einem „Sein“ ab? Nun, sie sagt, dass wir etwas tun sollten, weil es von Gott geboten wird. Damit wird ein „Sollte“ von einem „Sein“ abgeleitet. Jemand könnte fragen: „Warum sind wir denn verpflichtet, etwas zu tun, nur weil es von Gott geboten wird?“ Die Antwort auf diese Frage findet sich, meine ich, wenn man über die Natur der moralischen Pflicht nachdenkt. Pflicht erwächst aus dem Imperativ einer kompetenten Autorität. Würde zum Beispiel eine beliebige Person mich auffordern, mit dem Auto am Straßenrand anzuhalten, hätte ich überhaupt keine gesetzliche Verpflichtung, dieser Aufforderung zu folgen. Aber wenn ein Polizist diese Anweisung erlässt, wäre ich gesetzlich verpflichtet, Folge zu leisten. Der Unterschied bei diesen beiden Fällen liegt in der Person, die die Anweisung erteilt: Die eine Person ist dazu berechtigt, die andere dagegen nicht.

Ähnlich verhält es sich im Falle moralischer Verpflichtungen, die aus den Imperativen einer kompetenten Autorität erwachsen. Und indem Gott das Gute ist, ist Er in einzigartiger Weise qualifiziert, Gebote zu erteilen, die Ausdruck Seiner Natur sind. Was in Platons Theorie fehlt ist eine Person, die moralische Imperative als Ausdruck des Guten erlassen kann; doch diese Lücke wird im Theismus geschlossen. Mir scheint also, dass die Ableitung eines „Sollen“ aus einem „Sein“ in der "Divine-Command"-Theorie nicht nur nicht kritikwürdig ist, sondern ein zentrales Merkmal der moralischen Pflicht erfasst und plausibel begründet.

Ihre zweite Frage verwechselt moralische Semantik mit moralischer Ontologie. Der Vertreter einer Divine-Command-Theorie definiert überhaupt keine moralischen  Werte oder Pflichten; er fragt vielmehr nach ihrer ontologischen Grundlage. Wir können das übliche Verständnis moralischer Begriffe wie „gut“, „richtig“, „falsch“, usw. gleichmütig akzeptieren. Wir stellen ja keine Behauptung über die Bedeutung moralischer Begriffe auf. Wir versuchen vielmehr, ihre objektive Grundlage zu erklären. In ähnlicher Weise stellt der Naturalist keine semantische Behauptung über die Definition von Wörtern auf, sondern bietet eine andere Grundlage für Werte und Pflichten als der Theist. Die Frage ist: Welche moralische Theorie ist plausibler?

Sobald diese Verwechslung ausgeräumt ist, löst sich die dritte Frage von selbst. Ein Verfechter des Arguments aus der Existenz von objektiv gültiger Moral für die Existenz Gottes ("Moral-Argument") gebraucht die relevanten Begriffe in ihrer Standardbedeutung. In seiner kürzlichen Dissertation über das Moral-Argument (Ohio State University, 2009) zählt Matthew Jordan die folgenden Eigenschaften auf, die durch eine Untersuchung unserer moralischen  Erfahrung deutlich werden und die jede adäquate Theorie der moralischen  Pflicht kennzeichnen müssen:

Objektivität: Die Wahrheit einer moralischen  Proposition ist unabhängig von den Überzeugungen einer bestimmten menschlichen Person oder menschlichen Gemeinschaft.

Normativität: Moralische Überlegungen stellen als solche Gründe für das Handeln dar.

Kategorizität: Moralische Gründe sind Gründe für alle menschlichen Personen, unabhängig davon, welche Ziele oder Wünsche sie vielleicht haben.

Autorität: Moralische Gründe sind besonders gewichtige Gründe.

Erkennbarkeit: Unter normalen Umständen haben erwachsene Menschen epistemischen Zugang zu hervorstechenden moralischen Überlegungen.

Einheit: Eine menschliche Person kann einen moralischen Grund haben, zu handeln oder Handlungen zu unterlassen, die keine andere Person betreffen als den Akteur, der die Handlung ausführt.

Jede Theorie, die eine dieser Eigenschaften nicht hat, ist keine adäquate Theorie der moralischen Pflicht. Jemand mag versuchen, die Begriffe anders zu definieren, wenn er möchte, aber das wirkt sich nicht auf die Behauptungen aus, die wir treffen, indem wir unsere zwei Prämissen aufstellen. Die Frage ist, ob unsere Behauptungen, so wie wir sie verstehen, wahr sind.

Abschließend würde ich zwar durchaus zustimmen, dass das Universum, wenn objektive moralische Werte existieren, einen Sinn und Zweck hat, aber das liegt wie ich meine daran, dass wenn objektive moralische Werte existieren, Gott existiert, und dass Gott, wenn Er existiert, eine Absicht hatte, das Universum zu erschaffen. Aber ich sehe keine konzeptionelle Verbindung zwischen Sinn/Zweck und moralischem Wert, auf der aber Ihr Argument aufbaut. Ich denke also nicht, dass Sie mit der Einführung von Zweckhaftigkeit in irgendeiner Weise zu einer Stärkung des bisherigen Arguments beitragen.

(Übers.: M. Wilczek)

Link to the original article in English: http://www.reasonablefaith.org/does-theistic-ethics-derive-an-ought-from-an-is

- William Lane Craig