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#661 Immaterielle Agenten und Zeitausdehnung

April 10, 2020
F

Sehr geehrter Prof. Craig,

bis vor kurzem war ich ein reduktiver Materialist, aber Ihre Arbeit hat mich so beeindruckt, dass ich jetzt anders denke. Doch meine Frage ist etwas, womit ich nach wie vor kämpfe. Bevor ich sie stelle, möchte ich Ihnen noch sagen, dass meine Kenntnis des speziellen Relativitätsprinzips im Wesentlichen aus persönlichem Interesse rührt. Ich bin kein Experte zu diesem Thema, sodass mein Verständnis durchaus mangelhaft oder falsch sein kann.

Meine Frage ist im Wesentlichen diese: Wie können wir die Zeitausdehnung immaterieller Dinge verstehen? Wenn wir die spezielle Relativitätstheorie von Einstein nehmen und insbesondere das Beispiel mit der Photonen-Uhr, dann wissen wir, dass dann, wenn ein Beobachter X, der eine Photonen-Uhr in der Hand hält, sich an einem Beobachter Y vorbeibewegt, das Bezugssystem X in Bezug auf Y eine Zeitausdehnung erfährt. Der Beobachter Y erlebt das Ticken der Uhr als „langsamer“, und zwar umso langsamer, je schneller X sich an Y vorbeibewegt. Dies liegt daran, dass das Ticken in jedem der Bezugssysteme verschieden lang ist, während die Geschwindigkeit der Photonen gleichbleibt. Was nun den Beobachter X betrifft, so verstehe ich die Sache so, dass er dann, wenn er auf seine Uhr schaut, das Ticken als normal und nicht als langsamer empfindet. Wenn dies stimmt, bedeutet dies, dass die Wahrnehmung und das Bewusstsein von X ebenfalls eine Zeitausdehnung erfahren.

Ein Materialist würde sagen, dass das Sinn macht, da ja der Beobachter ganz aus materiellen Organen besteht, die ihrerseits ganz aus Atomstrukturen bestehen, und Atomstrukturen sind im Wesentlichen Photonen-Uhren. Die physischen neuronalen Strukturen und elektrischen Impulse des Gehirns sind ebenfalls physikalische Uhren. Mit anderen Worten: Diese physikalischen Strukturen in unserem „Geist“ erleben die Zeitausdehnung auf die gleiche Art wie die physikalische Photonen-Uhr. Und so dehnen sich die Photonen-Uhr und der physikalische „Geist“ des Beobachters X im Tandem aus, sodass der Beobachter X ein „normales“ Ticken wahrnimmt.

Wie können wir, wenn wir den Materialismus verwerfen, die Zeitausdehnung des immateriellen Ich verstehen?

Danke!

Aaron

United States

Prof. Craigs Antwort


A

Das ist eine Frage, die es in sich hat, Aaron!

Für die, die Aarons naturwissenschaftliche Kenntnisse nicht haben, möchte ich kurz erklären, dass nach Einsteins Spezieller Relativitätstheorie eine Uhr, die sich in gleichmäßiger Bewegung befindet, langsamer läuft als eine Uhr, die nicht bewegt wird. Man kann dies anhand der Licht-Uhr illustrieren: Stellen Sie sich eine Uhr vor, bei der die Zeitmessung so erfolgt, dass ein Lichtstrahl zwischen dem oberen und unteren Ende der Uhr hin- und herwandert. Bei einer Uhr, die nicht bewegt wird, ist dieser Strahl perfekt senkrecht und durchläuft die kürzeste Entfernung zwischen Oben und Unten. Aber wenn eine ähnliche Uhr sich in raschem Tempo an Ihnen vorbeibewegt, bewegt sich relativ zu Ihrer Position der Lichtstrahl nicht strikt senkrecht, sondern, wenn die Uhr denn funktioniert, in einer Art Zick-Zack-Muster. Damit durchläuft der Strahl aber nicht mehr die kürzeste Entfernung zwischen Oben und Unten, sodass er mehr Zeit braucht, um das jeweils andere Ende der Uhr zu erreichen. Was bedeutet, dass für den stationären Beobachter die Uhr „langsamer“ läuft. Dagegen wird, wie Aaron ganz richtig bemerkt, jemand, der diese Uhr in der Hand hält (sich also mit der gleichen Geschwindigkeit bewegt wie sie), die Uhr so erleben, als ob sie sich nicht bewegt; für ihn ist die Uhr stationär und wird somit nicht schneller oder langsamer. Langsamer gehen tut die Uhr für den anderen Beobachter, der sich nicht zusammen mit ihr bewegt.

Bedeutet die Zeitausdehnung ein Problem für den Substanzdualisten, für den die Seele bzw. der Geist etwas anderes ist als das Gehirn? Ich wüsste nicht, warum. Für den Substanzdualisten ist die Seele nicht der sprichwörtliche „Geist in der Maschine“, sondern steht in enger Verbindung zum Gehirn, mit dem zusammen sie Gedanken erzeugt. So wie jemand, dessen Gehirn durch Drogen oder Verletzungen geschädigt ist, nicht normal denken kann, wird jemand, dessen biologische Uhr langsamer läuft, langsamer denken als ein stationärer Beobachter. Die neuronalen Prozesse im Gehirn werden langsamer, und damit auch das Denken. Das Problem der Zeitausdehnung ist nicht schwieriger als die Tatsache, dass ich Schmerzen spüre, wenn mir ein Ziegelstein auf den Fuß fällt.

Nähere Informationen zum Menschen als psychosomatischer Einheit finden sich in den Kapiteln meines Kollegen J.P. Moreland über die Philosophie des Geistes in der 2. Auflage unseres Buches Philosophical Foundations for a Christian Worldview.

- William Lane Craig