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#677 Gottes propositionales und nichtpropositionales Wissen

July 04, 2020
F

Sehr geehrter Prof. Craig,

wir sind drei Studenten am Red Cross Nordic United World College, einem internationalen College an der norwegischen Westküste. Zurzeit beackern wir im Rahmen eines religionsphilosophischen Seminars das Thema „Mittleres Wissen (scientia media) und Gottes Allwissenheit“. Dabei haben wir uns auch ein Interview mit Ihnen auf „Closer to Truth“ angeschaut. Wir finden das, was Sie sagen, sehr interessant, haben aber an einigen Punkten Verständnisschwierigkeiten. In dem Interview erklären Sie den Unterschied zwischen propositionalem und nichtpropositionalem Wissen. Glauben Sie, dass Gott beide Arten von Wissen hat, und wenn ja, stimmen Sie uns zu, dass dies zu gewissen Komplikationen im Zusammenhang mit Gottes Vollkommenheit führt? Denn wenn Gott vollkommen ist und propositionales Wissen über das Leid in der Welt hat (z. B. das Wissen, wie es ist, in Armut zu leben), müsste er dann nicht etwas gegen dieses Leid unternehmen?

Von Doreen, Casper und Astrid

Norwegen
 

Norway

Prof. Craigs Antwort


A

Ich finde es super, dass drei Studenten in Norwegen sich mit meinen Ausführungen über die göttliche Allwissenheit beschäftigen. Möge Gott Sie segnen und in der Arbeit für sein Reich benutzen!

Ich habe den Eindruck, dass Sie Probleme mit der Unterscheidung zwischen propositionalem und nichtpropositionalem Wissen haben. Propositionales Wissen ist Wissen nach dem Schema: „Ich weiß, dass ___“, wobei die Leerstelle von einer Proposition ausgefüllt wird, z.B.: „dass Norwegen ein Land in Skandinavien ist.“ Man kann dies auch als Sachwissen bezeichnen. Nichtpropositionales Wissen dagegen folgt nicht dem Schema: „Ich weiß, dass ___“, sondern anderen Schemata, z.B. „Ich weiß, wie ___“, wo die Leerstelle nicht von einer Proposition ausgefüllt wird, sondern von einem anderen Satz, wie „wie man Fahrrad fährt“ oder „wie eine Zitrone schmeckt.“

„Das Wissen, wie es ist, in zu Armut zu leben“ ist kein propositionales, sondern ein nichtpropositionales Wissen. Jemand, der diese Art Wissen hat, sagt z. B.: „Ich weiß, wie es ist, in Armut zu leben.“ Ein propositionales Wissen über Armut wäre dagegen z. B. das Wissen: „Wer in Armut lebt, kriegt Depressionen“, oder: „In Armut leben führt zu Unterernährung.“ Diese Dinge kann man wissen, ohne selber erlebt zu haben, wie das ist, in Armut zu leben.

Diese Unterscheidung ist wichtig auch in Bezug auf die Allwissenheit Gottes, denn Allwissenheit wird traditionell über propositionales Wissen definiert:

Eine Person S ist dann allwissend, wenn sie für jede Proposition p weiß, dass p, und nicht Nicht-p glaubt.

Als allwissendes Wesen hat Gott mithin ein totales propositionales Wissen. Dies ist kompatibel damit, dass er womöglich kein nichtpropositionales Wissen hat.

Aber vielleicht geht Gottes kognitive Vollkommenheit noch über die Allwissenheit hinaus? Vielleicht besitzt er auch nichtpropositionales Wissen. Dies wird wichtig im Zusammenhang mit Aussagen, die aus der Perspektive der ersten Person erfolgen, z. B. „Ich bin Napoleon.“ Wenn diese Aussage die Proposition ausdrückt Ich bin Napoleon, dann gibt es rein private Propositionen, die man genau genommen gar nicht kommunizieren kann. Wenn Napoleon sagt: „Richte Josephine aus, dass ich bald komme“, kann ich Josephine das, was Napoleon da gesagt hat, nicht mitteilen. Ich kann ihr natürlich sagen: „Napoleon kommt bald“, doch das ist nicht die Tatsache, die mitzuteilen Napoleon mir aufgetragen hat. Und wenn ich ihr sage: „Ich komme bald“, drückt auch das nicht die Proposition aus, die mitzuteilen Napoleon mir aufgetragen hat. Die meisten Philosophen glauben daher, dass Aussagen, die aus solch einer persönlichen Perspektive heraus erfolgen (über persönliche Zeigewörter wie „ich“, „du“, „er/sie“ etc.), nichtperspektivische Propositionen zum Ausdruck bringen. Wenn also Napoleon sagt: „Ich bin Napoleon“ und ich ihm antworte: „Du bist Napoleon“, drücken er und ich dieselbe neutrale Proposition aus unterschiedlichen Perspektiven aus.

Nun ist es offensichtlich, dass zu Napoleons Wissen in der ersten Person mehr gehört als die neutrale Tatsache, dass Napoleon Napoleon ist. Es muss sich also um eine Art nichtpropositionales Wissen handeln, das allein Napoleon hat. Aber auch Gott hat offensichtlich Wissen in der ersten Person, das er in solchen Sätzen wie „Ich bin der Gott deiner Väter“ zum Ausdruck bringt. Gott hat also nicht nur propositionales, sondern auch nichtpropositionales Wissen. Aber er hat nicht alles nichtpropositionale Wissen, das es gibt, denn dies wäre ein kognitiver Defekt und nicht kognitive Vollkommenheit. Wenn Gott z. B. dächte, dass er Napoleon ist, dann wäre er verrückt. Gott kann also nur solches nichtpropositionale Wissen haben, das mit seiner kognitiven Vollkommenheit vereinbar ist.

Weiß Gott also, wie es ist, in Armut zu leben? Besitzt er dieses nichtpropositionale Wissen? Darüber kann man verschiedener Meinung sein, aber ich sehe nicht, warum er es nicht besitzen sollte. Es muss einen inneren Zustand geben, den Menschen erleben, die in Armut leben. Warum sollte Gott sich nicht in diesen Zustand versetzen und ihn so selber erleben können?

Ich glaube nicht, dass dies das Problem des Bösen und des Leidens auf irgendeine Weise verschlimmert, wie Sie das offenbar befürchten. Das rein propositionale Wissen, dass „Millionen Menschen in Armut leben müssen“, ist in sich selber genug, um Ihre Frage aufzuwerfen, ob Gott dann nicht etwas dagegen unternehmen müsste. Wenn es (wie ich glaube) auf diese Frage eine gute Antwort gibt, wird diese Antwort auch für den Fall gelten, dass Gott auch nichtpropositionales Wissen besitzt. Für die Armen dieser Welt könnte es sogar ein echter Trost sein, zu wissen, dass Gott weiß, wie ihnen zumute ist, und einen Plan zur Abschaffung der Armut hat.

(Übers.: Dr. F. Lux)

Link to the original article in English: https://www.reasonablefaith.org/writings/question-answer/gods-propositional-and-non-propositional-knowledge/

- William Lane Craig