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#646 Genesis 2–3: Anthropomorphismus oder Theophanie?

December 22, 2019
F

Sehr geehrter Prof. Craig,

danke für ihre neueren Arbeiten über das Erste Mosebuch und Adam und Eva; es war mir eine große Hilfe, einen Kameraden zu finden, der ebenfalls um das rechte Verständnis des Genesis-Textes ringt.

Ich habe dazu eine Frage: In ihrer Defenders 3-Serie argumentieren Sie in Teil 21 (Exkurs über die Erschaffung des Lebens und der biologischen Diversität), dass Jahwes Wandeln im Garten (1. Mose 2–3) sich von anderen alttestamentlichen Theophanien unterscheidet, weil es in dem Text nicht heißt, dass Jahwe Adam und Eva „erschien“ wie bei dem Besuch bei Abraham in Mamre in 1. Mose 18,1-2 (vgl. auch 2. Mose 3,2 und Richter 6,12).

Es gibt jedoch mehrere andere alttestamentliche Theophanien, in denen Jahwe ebenfalls nicht „erscheint“: a) Josua 5,13-15, wo der Befehlshaber der Heere Jahwes vor Josua steht. – b) 1. Mose 16,7-13, wo der Engel Jahwes zu Hagar spricht. – c) 1. Mose 32,25-33, wo ein „Mann“ (der als Gott identifiziert wird) mit Jakob ringt. Die Beschreibung als „erscheinen“ kann also nicht eine notwendige Bedingung für theophanische Begegnungen mit Jahwe in physischer Form sein, und Gottes Wandeln im Garten Eden in 1. Mose 2–3 ist gattungsmäßig nicht von diesen anderen Theophanie-Passagen unterschieden. Damit will ich nicht sagen, dass all diese Theophanien ganz und gar wörtlich (oder nichtwörtlich) zu verstehen sind, sondern vielmehr, dass das Wandeln Gottes im Garten Eden aus dem gleichen literarischen Holz geschnitzt ist wie andere Theophanien im Alten Testament.

Stimmen Sie mir zu, dass es besser wäre, zu sagen, dass alle Theophanie-Passagen – ob sie nun von einem „Erscheinen“ reden oder nicht – sich der Dichotomie „wörtlich/ nichtwörtlich“ entziehen und dass die hebräischen Autoren einfach kreativ mit der Sprache ringen, um persönliche Begegnungen mit Jahwe angemessen zu beschreiben?

In Ihm.

Thomas

United States

Prof. Craigs Antwort


A

Für Leser, die nicht mit dem Kontext vertraut sind, lassen Sie mich die Bühne für Ihre sehr wichtige Frage vorbereiten, Thomas. In meinen Defenders-Vorträgen behaupte ich, dass die Darstellungen Gottes als menschenähnliche Gottheit in 1. Mose 2–3 nicht zu der transzendenten Gottesvorstellung in 1. Mose 1 passen und daher nicht wörtlich zu verstehen sind. Es handelt sich vielmehr um bildhafte Anthropomorphismen, also Beschreibungen Gottes anhand menschlicher Bilder, mit denen wir alle vertraut sind, wenn wir z. B. sagen: „Gottes Augen achten auf die Gerechten und sein Ohr auf ihre Gebete.“

Gegen diese Deutung von 1. Mose 2–3 wird nun eingewendet, dass wir in diesen Kapiteln Theophanien finden, d. h. Erscheinungen Gottes in Menschengestalt: Jawohl, Gott ist „eigentlich“ transzendent, aber hier erscheint er Menschen in menschlicher Form. So erscheint er z. B. in 1. Mose 18 Abraham bei den Terebinthen von Mamre in Form von drei Männern. Diese Beschreibungen sind mithin buchstäblich zu nehmen: So haben Menschen Gott erlebt.

Dies ist sicherlich eine mögliche Interpretation. Es gibt zahlreiche Theophanien im Alten Testament. Aber ist es die plausibelste Interpretation von 1. Mose 2–3? Ich habe zwei Gründe dagegen genannt: (1) In 1. Mose 2–3 fehlt die theophanie-typische Sprache. In 1.  Mose 18,1 heißt es: „Und der Herr erschien ihm bei den Terebinthen Mamres . . .“ In Genesis 2–3 finden wir nichts dergleichen. – (2) Gott wird in Genesis 2–3 auch dort anthropomorph beschrieben, wo er niemandem erscheint. Das erste Beispiel ist, wie er aus Staub von der Erde Adam formt und ihm den Atem des Lebens in die Nase bläst; dies kann unmöglich eine Erscheinung vor Adam sein, weil Adam noch gar nicht lebendig war! Und das zweite Beispiel ist die Erschaffung Evas aus Adams Rippe. Auch hier kann es sich nicht um eine Erscheinung handeln, hatte Gott doch Adam in einen Tiefschlaf versetzt (und Eva gab es noch gar nicht).

Gegen meinen ersten Grund für die Annahme, dass in 1. Mose 2–3 keine Theophanien beschrieben werden, wenden Sie ein, dass es auch Theophanien gibt, wo nicht von „erscheinen“ die Rede ist. Nun, untersuchen wir die Beispiele aus dem Pentateuch, da dies die für das Buch Genesis relevanten sind. Bei dem Ringkampf Jakobs in 1. Mose 32,25ff ist von „erscheinen“ tatsächlich nicht die Rede, aber dafür im Nachhinein in 1. Mose 35,9-10, wo es heißt: „Und Gott erschien Jakob zum zweiten Mal, seitdem er aus Paddan-Aram gekommen war, und segnete ihn. Und Gott sprach zu ihm: ‚Dein Name ist Jakob, aber du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel soll dein Name sein!‘“ – genau die Namengebung des Ringkampfes. Ähnlich in 1. Mose 35,1: „Und Gott sprach zu Jakob: ‚Mache dich auf, zieh hinauf nach Bethel und wohne dort und baue dort einen Altar für den Gott, der dir erschienen ist, als du vor deinem Bruder Esau geflohen bist!‘“ – eine Rückblende zu Jakobs Traum in 1. Mose 28,10-17. Es scheint, dass Jakobs Leben von einer ganzen Reihe göttlicher Theophanien begleitet und geleitet war.

In anderen Fällen sind es andere Ausdrücke, die dem aufmerksamen Leser zeigen, dass er es mit einer Theophanie zu tun hat. So finden wir in der Szene mit Hagar in 1. Mose 16,7-13 den mysteriösen „Engel des Herrn“, der gleichzeitig als Engel und als Herr und Gott beschrieben wird. In 1. Mose 31,3-13 erwähnt Jakob eine ähnliche Figur, die im Traum zu ihm spricht und die sowohl „der Engel Gottes“ (V. 11) ist als auch „der Gott von Bethel“ (V. 13; vgl. 1. Mose 35,1). Und in 2. Mose 3,2 lesen wir bei der Erscheinung Gottes vor Mose: „Und der Engel des Herrn erschien ihm . . .“

In Genesis 2–3 glänzt diese Ausdrucksweise durch Abwesenheit. Weder „erscheint“ Gott noch gibt es den mysteriösen „Engel des Herrn“. Diese Geschichten lesen sich einfach nicht wie Theophanien.

Betrachten wir dies zusammen mit meinem zweiten Argument – dass Gott in 1. Mose 2–3 auch dort anthropomorph beschrieben wird, wo er niemandem erscheint – , so komme ich zu dem Schluss, dass das Verständnis der Beschreibungen Gottes in Genesis 2–3 als literarische Anthropomorphismen plausibler ist, als sie als buchstäbliche Theophanien zu verstehen.

(Übers.: Dr. F. Lux)

Link to the original article in English: https://www.reasonablefaith.org/writings/question-answer/genesis-2-3-anthropomorphism-or-theophany

- William Lane Craig