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#620 Eine zweite Chance nach dem Tod?

July 07, 2019
F

Sehr geehrter Prof. Craig,

danke für Ihren Einsatz für den christlichen Glauben. Ich lese Ihre Bücher und verfolge Ihre Debatten und Ihren „Defenders“-Podcast.

Meine Frage hat mit einem Problem zu tun, über das ich in dem Buch Heaven, Hell, and Purgatory von Jerry L. Walls (Brazos Press, 2015) gelesen habe. Es ist ein hochinteressantes Buch. Mir geht es um das Thema der Buße nach dem Tod. Walls plädiert für die Möglichkeit, dass Gott, da seine Liebe kein Ende kennt, sich auch um die Verlorenen im Fegefeuer bzw. in der Hölle kümmert. Er fragt sich, was für eine Art von Gnade Gott hat; ist es genügende oder optimale Gnade? Genügende Gnade bedeutet, dass Gott als gerechter Gott Menschen in die Hölle schicken kann. Optimale Gnade dagegen bedeutet, dass Gott jedem Menschen alle erdenklichen Gelegenheiten gibt, zur Buße zu finden. Ein Beispiel wäre ein Mensch, der angefangen hat, sich für den christlichen Glauben zu interessieren, aber sein Leben noch nicht Christus übergeben hat, und der jetzt plötzlich stirbt. Wird Gott ihm nicht anschließend die Möglichkeit geben, seine Bekehrung zu Christus zu vollenden?

Walls nennt eine ganze Reihe anderer möglicher Situationen und erklärt einige der Bibelstellen, die die Möglichkeit einer Bekehrung nach dem Tod offen zu lassen scheinen. Und ich habe den Eindruck, dass die Gnade Gottes in der Tat optimal und nicht bloß genügend ist. Aber dann kam ich auf ein Problem. Wenn Bekehrung auch nach dem Tod möglich ist, warum hat Gott uns dann befohlen, hier und jetzt das Evangelium zu predigen? Ich finde auch, dass solche Möglichkeiten nach dem Tod unsere Bemühungen, die Verlorenen zu erreichen, entwerten, ja dass sie unser ganzes Leben entwerten. Ich meine, wenn Gott den Sündern noch in der Hölle eine Chance gibt, sich zu bekehren und in den Himmel zu kommen, warum soll man dann schon in diesem Leben ein Christ sein? Noch einmal danke für Ihre Arbeit!

Gott segne Sie.

Tom

Neuseeland

Afghanistan

Prof. Craigs Antwort


A

Lassen Sie mich als Erstes klarstellen, Tom, dass ich das Buch von Walls nicht gelesen habe, sodass meine Antwort eine Antwort auf Ihre Frage ist und nicht eine Erwiderung auf das Buch.

Zunächst eine theologische Klarstellung: Die Menschen im Fegefeuer (angenommen, es gibt so etwas) sind bereits gerettet; sie bekommen keine zweite Chance zur Erlösung, sondern werden von ihren Sünden gereinigt, damit sie anschließend in den Himmel können. Es geht vielmehr um die Frage, ob die Menschen, die in die Hölle gekommen sind, eine zweite Chance erhalten, der ewigen Verdammnis zu entgehen.

Ihre Frage basiert auf der Unterscheidung zwischen „genügender“ und „optimaler“ Gnade. Optimale Gnade definieren Sie wie folgt: „Optimale Gnade dagegen bedeutet, dass Gott jedem Menschen alle erdenklichen Gelegenheiten gibt, zur Buße zu finden.“ So definiert, ist optimale Gnade logisch inkohärent, da es unmöglich ist, dass jemand für „alle erdenklichen Gelegenheiten“ erschaffen ist. Wenn ich als Bauer im Mittelalter erschaffen bin, kann ich nicht die Gelegenheit bekommen, eine Evangelisationspredigt von Billy Graham zu hören. In meiner konkreten Situation sind mir unzählige Möglichkeiten, zur Buße zu finden, schlicht nicht zugänglich.

Aber dann geben Sie zum Glück ein Beispiel für die optimale Gnade, das kohärenter ist: „Ein Beispiel wäre ein Mensch, der angefangen hat, sich für den christlichen Glauben zu interessieren, aber sein Leben noch nicht Christus übergeben hat, und der jetzt plötzlich stirbt. Wird Gott ihm nicht anschließend die Möglichkeit geben, seine Bekehrung zu Christus zu vollenden?“ Ich finde, dass hier eine molinistische Perspektive der optimalen Gnade eher gerecht wird als die Vorstellung einer nachtodlichen Bekehrung. Für den Molinisten sind unsere Lebensumstände nicht das Ergebnis eines historischen und geografischen Zufalls, sondern Gott hat die Umstände, unter denen wir geboren und aufgezogen worden sind, bestimmt und gibt jedem genügend Gnade, um erlöst zu werden. (Das Wort „genügend“ hat hier eine andere Bedeutung als bei Ihnen! Ich meine es etwa im Sinne von „reichlich“.) Wenn wir wollen, können wir hier noch weitergehen und sagen: Gott sorgt durch sein mittleres Wissen (scientia media) dafür, dass niemand in die Situation kommt, dass er sich nicht vor seinem Tod zu Gott hinwendet, aber doch noch zur Buße und Erlösung gefunden hätte, wenn er nur länger gelebt hätte. Hätte Gott gewusst, dass eine Verlängerung seines Lebens ihn zu einem bekehrten Christen gemacht hätte, hätte er es nicht so geführt, dass sein Lebensfaden vorher abgerissen ist. Kurz: Wenn ein Mensch vor seinem Tod nicht zu einem rettenden Glauben gekommen ist, dann wäre er auch nicht zum Glauben gekommen, wenn er länger gelebt hätte. Gott ist zu gnädig, um es zuzulassen, dass jemand, der hätte erlöst werden können, vorzeitig stirbt.

Diese molinistische Lösung ist für Dr. Walls nicht möglich, weil er als klassischer Arminianer das mittlere Wissen Gottes verneint oder jedenfalls nicht daran glaubt. Um das Problem zu lösen, muss er seine Zuflucht zu wenig plausiblen Auslegungen biblischer Texte nehmen, damit Buße und Bekehrung auch nach dem Tod möglich wird. Dies ist eine weitere Illustration der theologischen Kraft und Fruchtbarkeit der Lehre vom mittleren Wissen.

Tom, ich glaube nicht, dass die Lehre der Möglichkeit der Bekehrung nach dem Tod „unser ganzes Leben entwertet“, und kann Ihre Frage „wenn Gott den Sündern noch in der Hölle eine Chance gibt, sich zu bekehren und in den Himmel zu kommen, warum soll man schon in diesem Leben ein Christ sein?“ nicht teilen, denn in ihr scheint mir die Meinung zu stecken, dass ein Leben in Sünde besser ist als ein Leben mit Christus, was offensichtlich falsch ist und das selbstzerstörerische Wesen der Sünde unterschätzt. Fragen Sie sich einmal: Was für ein Mensch wollen Sie werden? Einer, der das Wesen Christi widerspiegelt, oder einer, der sich nur um sich selber und die leeren Freuden der Sünde dreht?

Dagegen stimme ich Ihnen voll zu in Ihrer Einschätzung, dass die Lehre von einer möglichen Buße noch nach dem Tod die Motivation und Dringlichkeit der missionarischen Anstrengungen, das Evangelium in die ganze Welt zu tragen, unterminiert; es ist dann wirklich einfacher, zu Hause zu bleiben und die Menschen Gottes Wirken im Leben nach dem Tod zu überlassen.

 (Übers.: Dr. F. Lux)

Link to the original article in English: www.reasonablefaith.org/writings/questions-answer/a-second-chance-after-death

- William Lane Craig