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#10 Die Zuverlässigkeit der Evangelien nachweisen

May 06, 2015
F

Mir ist aufgefallen, dass Sie in Ihren Debatten und Artikeln Ihr großes Vertrauen in die Evangeliumsberichte zum Ausdruck bringen. Ich würde mich als Christ bezeichnen, habe aber einen großen Zweifel. Wie können wir wissen, dass diese Evangeliumsberichte wirklich so zuverlässig sind? Klar sind sie historisch, doch sind sie wahr oder nicht? Ich könnte eine Arbeit darüber schreiben, dass Big Foot, der Osterhase und der Nikolaus zu mir nach Hause gekommen sind und mit mir ferngesehen haben; und tausende Jahre später stolpern die Menschen über meine Schriften und halten sie für wahr. Die Entdecker der Schriften irgendeines gewöhnlichen Menschen „Joe“ aus ferner Vergangenheit sagen dann: „Nun, wir halten diese Arbeit für wahr, weil es in etwa 26.000 vollständige Kopien oder Fragmente dieser antiken Schrift gibt, die man in Europa, Asien und Afrika gefunden hat. Zudem gibt es nur ungefähr 680 Kopien von Homers „Odyssee“, sodass die Erzählungen von Joe völlig zuverlässig sind.“ Klar sind sie historisch, aber deswegen definitiv noch nicht wahr. Wer oder was bestimmt, dass die Evangeliumsberichte wahr, und nicht gefälscht, sind? Wenn mir diese Frage beantwortet wird, kann ich endlich glauben, dass Gott Jesus wirklich aus den Toten auferweckt hat, und wissen, dass ich in den Himmel komme. Es wäre mir also eine große Hilfe, wenn Sie oder einer Ihrer Assistenten diese Frage beantworten könnte. Danke.

Joe

United States

Prof. Craigs Antwort


A

Ich freue mich über Ihre Frage, Joe, weil sie eine Reihe von Missverständnissen anspricht, die sowohl unter Christen als auch unter Nicht-Christen weit verbreitet sind.

Ihre Hauptfrage lautet: Wie können wir wissen, dass die Evangeliumsberichte historisch zuverlässig sind? Sie haben schon ganz richtig darauf hingewiesen, dass diese Frage nicht per Verweis auf die Fülle und das Alter der Manuskripte der Evangelien beantwortet werden kann. Der Gedanke, dass die Fülle und das Alter der Manuskripte der Evangelien einen Beleg für deren historische Zuverlässigkeit darstellen, ist eine irrige Annahme, die viele beliebte christliche Apologeten vertreten. Es stimmt, dass das Neue Testament das am besten belegte Buch der Antike ist, sowohl in Bezug auf die Anzahl von Manuskripten als auch die Nähe der Manuskripte zum Entstehungsdatum des Originals. Was das belegt, ist, dass der Text des Neuen Testaments, den wir heute haben, fast genau der gleiche ist wie der Text, der ursprünglich geschrieben wurde. Von den ungefähr 138.000 Wörtern im Neuen Testament sind nur 1.400 nicht gewiss. Damit sind 99 % des Neuen Testaments bekannt. Das heißt: Wenn Sie heute ein (griechisches) Neues Testament nehmen, können Sie davon ausgehen, dass Sie den Text lesen, wie er ursprünglich aufgeschrieben wurde. Zudem handelt es sich bei dem einen Prozent, der noch unklar ist, um triviale Wörter, von denen nichts Bedeutendes abhängt. Diese Schlussfolgerung ist wichtig, weil sie die Behauptungen von Muslimen, Mormonen und anderen entkräftet, nach denen der Text des Neuen Testamentes gefälscht worden sei, sodass wir den Originaltext heute nicht mehr lesen können. Es ist ein ehrfurchtsgebietender Gedanke, dass wir gewiss sein können, dass wir z. B. beim Lesen von Paulus‘ Brief an die Gemeinde in Rom genau die Wörter lesen, die Paulus vor knapp 2.000 Jahren niedergeschrieben hat.

Doch, wie Sie schon sagten, belegt das nicht, dass der Inhalt dieser Dokumente historisch zutreffend ist. Auch wenn es sich bei den Fabeln von Äsop um zu 99 % zuverlässige Texte handeln würde, würde das doch in keiner Weise belegen, dass es wahre Geschichten sind. Schließlich war es ja auch beabsichtigt, dass man sie als Fabeln versteht, und nicht als Geschichtsbücher. Die Leute in der Zukunft würden über die Erzählungen des Joe Ähnliches sagen, ganz egal, wie viele Kopien existieren.

Wie Sie ebenfalls korrekt sagten, sollen die Evangelien aber Geschichtsbücher sein. Das haben Sie mit der Anmerkung ausgedrückt, dass die Evangelien „historisch sind“, auch wenn sie nicht wahr sind. Das heißt, die Evangelien sind von ihrer Literaturgattung her historische Schriftstücke. Sie gehören nicht der Gattung „Mythologie“, „Fiktion“ oder „Fabel“ an. Das ist eine extrem wichtige Einsicht. Unter den Neutestamentlern ist man sich mittlerweile größtenteils einig, dass die Evangelien von ihrer Gattung her altertümlichen Biographien am ähnlichsten sind. (Etwa wie die Vitae von Plutarch, also z.B. seine „Lebensbeschreibungen berühmter Griechen und Römer“). Zwar unterscheiden sie sich in mancherlei Hinsicht von modernen Biographien, z. B. was die Nachlässigkeit in Bezug auf strenge Chronologie angeht, doch wollte man mit altertümlichen Biographien das Leben der Hauptperson sehr wohl wahrheitsgemäß darstellen. Das unterscheidet sie sehr stark von absichtlicher Fiktion wie derjenigen, die Ihnen in Ihrem Beispiel von „Joes Schriftstück“ vorschwebt. Die Schreiber der Evangelien waren also bemüht, einen historischen Bericht über reale Menschen, Orte und Ereignisse zu verfassen (sehen Sie sich nur einmal Lukas 3,1-3 an).

Haben sie es also geschafft, die Fakten über Jesus von Nazareth korrekt niederzuschreiben? Man kann auf zwei Wegen an diese Frage herangehen. Zum einen, indem man die allgemeine Glaubwürdigkeit der Evangeliumsberichte bewertet. Sehen Sie sich hierzu meinen auf dieser Website zur Verfügung gestellten Artikel „The Evidence for Jesus“ [1] an (unter „Writings“ - „Popular Articles“ – „Jesus of Nazareth“), in denen ich fünf Indizienstränge darlege, die für die allgemeine Zuverlässigkeit der Aufzeichnungen über Jesus in den Evangelien sprechen.

Der andere Weg – der unter den heutigen Neutestamentlern mehr Anerkennung genießt – wäre, spezifische Fakten über Jesus herauszuarbeiten, ohne von vorneherein davon auszugehen, dass die Evangelien allgemein zuverlässig sind. Der Schlüssel hierzu sind die sogenannten „Authentizitätskriterien“, die es uns ermöglichen, spezifische Aussprüche oder Ereignisse im Leben Jesu als historisch anzuerkennen. Einige Gelehrte haben auf der Suche nach dem historischen Jesus eine Reihe solcher Kriterien erstellt, mit denen man historisch authentische Eigenschaften Jesu feststellen kann. Dazu zählen z. B. Abweichungen von der christlichen Lehre, mehrfache Belege bzw. Indizien, linguistische Semitismen, Spuren der palästinensischen Lebenswelt, Erhaltung beschämenden Materials, Übereinstimmung mit anderem authentischen Material und so weiter.

Der Begriff „Kriterien“ ist an dieser Stelle aber etwas irreführend, da sie hier darauf abzielen, ausreichende, nicht notwendige, Bedingungen der Historizität zu erfüllen. Das ist offensichtlich: Nehmen wir an, ein Ausspruch Jesu ist mehrfach belegt und weicht von der christlichen Lehre ab, ist aber nicht beschämend. Wenn Beschämung eine notwendige Bedingung der Authentizität wäre, müsste der Ausspruch für nicht authentisch befunden werden, was irrig ist, weil die mehrfachen Belege und die Abweichung ausreichen, um die Authentizität festzustellen. Natürlich sind diese Kriterien anfechtbar, also nicht unfehlbare Richtlinien der Authentizität. Eine bessere Bezeichnung wäre „Authentizitätsanzeichen“ oder „Zeichen der Glaubwürdigkeit“.

Genaugenommen machen die Kriterien lediglich Aussagen darüber, wie sich bestimmte Arten von Indizien auf die Wahrscheinlichkeit verschiedener Aussprüche oder Ereignisse in Jesu Leben auswirken. Bei einem Ausspruch oder Ereignis A und einem bestimmten Indiz oder Beleg B würde das Kriterium besagen, dass die Wahrscheinlichkeit von A bei Vorliegen von B größer ist als die Wahrscheinlichkeit von A, wenn wir nur unser bisheriges Hintergrundwissen haben. So ist, wenn sonst alles gleich bleibt, z.B. die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses oder Ausspruches aufgrund der mehrfachen Belege dafür größer, als sie ohne die Belege wäre.

Welche Faktoren gibt es, die als Indizien bzw. Belege B die Wahrscheinlichkeit irgendeines Ausspruchs oder Ereignisses A erhöhen? Die folgenden gehören zu den wichtigsten:

(1) Historische Übereinstimmung: Das Ereignis A stimmt mit bekannten historischen Fakten über den historischen Kontext überein, in dem A sich ereignet haben soll.

(2) Voneinander unabhängige, frühe Quellen: A kommt in mehreren Quellen vor, die aus einer Zeit stammen, die nahe an die Zeit heranreicht, in der sich A ereignet haben soll, und die nicht voneinander noch von einer gemeinsamen Quelle abhängen.

(3) Beschämung: Das Ereignis A ist beschämend, peinlich oder kontraproduktiv für diejenigen, die als Informationsquelle von A dienen.

(4) Abweichung: Das Ereignis A entspricht nicht früheren jüdischen Vorstellungen und/oder späterem christlichen Gedankengut.

(5) Semitismen: Spuren hebräischer oder aramäischer Sprache tauchen in der Geschichte auf.

(6) Kohärenz: Das Ereignis stimmt mit Fakten über Jesus überein, die bereits gesichert sind.


Eine gute Diskussion dieses Themas finden Sie in Robert Stein: „The Criteria for Authenticity“, in: Gospel Perspectives I, Hg.: R. T. France und David Wenham (Sheffield, England: JSOT Press, 1980), S. 225-263. [2]

Hierbei ist zu beachten, dass diese „Kriterien“ nicht einfach die allgemeine Zuverlässigkeit der Evangelien unterstellen. Sie konzentrieren sich vielmehr auf einen Ausspruch oder ein Ereignis und führen Belege dafür an, dass dieses spezifische Elemente des Lebens Jesu historisch ist, unabhängig von der allgemeinen Zuverlässigkeit des Dokumentes, in dem von dem jeweiligen Ausspruch oder Ereignis berichtet wird. Dieselben „Kriterien“ sind also auch auf die Berichte über Jesus anwendbar, die man in den apokryphen Evangelien oder in den rabbinischen Schriften oder gar im Koran findet. Wenn sich die Evangelien als allgemein zuverlässig erweisen, ist das natürlich umso besser, aber die „Kriterien“ hängen nicht von einer solchen Voraussetzung ab. Sie dienen dazu, historische Weizen selbst inmitten historischer Spreu ausfindig zu machen. Deswegen müssen wir uns gar nicht daran machen, jede Behauptung der Evangelien, die Jesus zugeschrieben wird, zu verteidigen. Die Frage ist vielmehr, ob wir genügend Fakten über Jesus ausarbeiten können, dass der Glaube an ihn vernünftig ist.

Ich bin der Überzeugung, dass wir das können. Ja, es ist fast erschreckend, wie viel über Jesu Leben als gesichert gelten kann, einschließlich seiner radikalen Behauptungen über sich selber, seiner Kreuzigung, seiner Bestattung in einem Grab, der Entdeckung seines leeren Grabes, seiner Erscheinungen nach seinem Tod und des plötzlichen und aufrichtigen Glaubens seiner Jünger, dass Gott ihn von den Toten auferweckt hatte. Ein ausführliches Argument hierzu finden Sie in meinem Buch Reasonable Faith (Wheaton, III.: Crossway, 1994). [3] Auf Basis der historischen Fakten, die in den Evangelien festgehalten wurden, haben wir also ziemlich handfeste Gründe für den Glauben an Jesus Christus.

William Lane Craig

(Übers.: J. Booker; L: RN)

Link to the original article in English: http://www.reasonablefaith.org/establishing-the-gospels-reliability

  • [1]

    Übersetzung in deutscher Sprache auf dieser Seite verfügbar unter "translations". (Anm. d. Übers.)

  • [2]

    In englischer Sprache – Anm. d. Übers.

  • [3]

    Reasonable Faith von W.L. Craig (3. Auflage 2008, Verlag Crossway) liegt bislang nur in Englischer Sprache vor. In dem Buch On Guard von W.L. Craig, welches Okt. 2015 in deutscher Sprache erscheint, finden sich ebenfalls zwei Kapitel über die Autentizität der Worte Jesu sowie Belege für seine Auferstehung. (Anm. d. Übers.)

- William Lane Craig