#272 Die Grenzen der Vernunft
March 25, 2018Sehr geehrter Prof. Craig,
ich bin ein Atheist, aber dennoch ein großer Fan von Ihnen. Ich verteidige Sie immer gegen dümmliche Internetatheisten, die sich nie die Mühe machen, irgendetwas zu lesen, aber meinen, sie könnten einen Mann mit zwei Doktortiteln und Autoren von zwei Dutzend Büchern lächerlich machen.
Sie verteidigen die klassischen Gottesbeweise so gut. Aber ich denke, dass Sie sich für unsere heutige Zeit zu sehr auf gesunden Menschenverstand und Intuition verlassen. Wir leben nicht in einem Zeitalter, in dem wir darauf vertrauen können, dass die Gesetze der Vernunft dieselben sind wie die Gesetze der Realität, wie es Menschen zur Zeit des Aristoteles glaubten. Wäre das der Fall, hätten wir niemals die Physik von Aristoteles aufgeben müssen. Sie klang vollkommen intuitiv, aber stellte sich als falsch heraus, selbst in Bezug auf die einfache Vorstellung der Trägheit, die ein Prinzip ist, das unsere Gehirne aufgrund von dem, wie wir offensichtlich gepolt sind, einfach nicht akzeptieren will.
So können wir leicht erkennen, wie begrenzt die Vernunft beim Verständnis der Physik ist. Wieviel mehr ist sie dann begrenzt, wenn es um das Verständnis der Schöpfung und Gott geht. Wenn wir über den Anfang der Zeit und über die Schöpfung und über Gott nachdenken, bringt unsere Vernunft doch widersprüchliche Vorstellungen hervor. Sie gibt sich mit der Vorstellung nicht zufrieden, dass die Vergangenheit unendlich sein soll, doch gleichzeitig auch nicht mit der Vorstellung, dass die Zeit einen Anfang hat. Beides klingt absurd, und wir sind gezwungen, das Gegenteil zu glauben, jedoch ist das Gegenteil genauso absurd.
Ferner fordert die Vernunft, dass die Ursachenkette in die Vergangenheit nicht für immer weitergehen kann, aber sie kann genauso wenig ebendiesen Gedanken einer „ersten Ursache“ verstehen. Sie fordert auch, dass kontingente Dinge letztendlich durch ein notwendiges Wesen erklärt werden, aber empfindet genau diese Vorstellung eines „notwendigen Wesens“ gleichzeitig als inkohärent. Sie möchte Gott als Schöpfer der Zeit, aber kann die Vorstellung nicht begreifen, dass es einen Akteur geben kann, der handelt, zum Beispiel erschafft, aber selbst keine Zeitdimension hat, während wir gleichzeitig in unserer eigenen Erfahrung genau deshalb handeln können, weil wir in der Zeit sind und dies es ist, was jegliches Handeln erst ermöglicht.
Diese Beispiele sollten ein Anhaltspunkt dafür sein, dass wir nicht wirklich unseren Intuitionen in Bezug auf logische Schlussfolgerungen über die Grenzen der natürlichen Welt hinaus folgen sollten. Denn die Vernunft will den Gedankengang bis zum Ende verfolgen, versucht aber offensichtlich, mit einem Bereich umzugehen, der nach einem bestimmten Punkt nicht mehr nach menschlicher Logik funktioniert. Wir mögen empfinden, dass wir einer Sache auf der Spur sind, doch das ist lediglich eine Illusion, und wir sollten solche Gefühle nicht ernst nehmen.
Ich bin bereit zuzugeben, dass der Atheismus seine eigenen Probleme mit sich bringt. Das ist dadurch offensichtlich, dass wir Atheisten entweder den Positivismus oder Postmodernismus akzeptieren müssen, und beide haben fatalen Probleme. Der Postmodernismus widerlegt sich selbst, wie Sie in Ihrem großartigen Buch Philosophical Foundations for a Christian Worldview erklären. Und der Positivismus ist offensichtlich einfach logisch nicht ausgereift und befindet sich, wenn man konsistent sein muss, auf dem Weg zum Postmodernismus. Wie Wittgenstein, der reifer wurde und seinen Positivismus aufgab und ein Postmodernist wurde. Und damit endet der Weg.
Somit scheint es, dass die Debatte zwischen Atheisten und Theisten in einer Pattsituation angelangt ist. Aber wenn Sie immer noch behaupten, ich müsse den Atheismus verwerfen, weil ich sonst in der Absurdität des Postmodernismus lande und ich deshalb seine Verneinung, das heißt, den Theismus, annehmen muss, nun, dann werde ich Sie an fatale Probleme in Ihrer eigenen Weltanschauung erinnern, wie der JEDP-Hypothese [Vier-Quellen-Hypothese] für den Ursprung der Thora und an den intellektuellen Erfolg des Darwinismus, der Akzeptanz erfordert.
Mit besten Wünschen
KS
Turkey
Prof. Craigs Antwort
A
Ich bin Ihnen wirklich für Ihre interessante Frage dankbar, KS, und insbesondere auch dafür, dass Sie für mich in atheistischen Internetforen eintreten!
Als ich Ihren Brief las, dachte ich, wow, das klingt genauso wie ein guter Kantianer! (Haben Sie Kants Kritik der reinen Vernunft [1781] gelesen? Ihre Argumente sind ein Widerhall seiner Argumente!) Nun gibt es heute kaum Philosophen, die in Bezug auf die Fähigkeit der Vernunft, uns wichtige Wahrheiten über die Realität zu liefern, Kantianer sind. Seit dem Untergang des Verifikationismus Mitte des 20. Jahrhunderts hat die Metaphysik trotz Kants Kritik einen erneuten Boom erlebt. Dies legt nahe, dass mit Ihrem Argument irgendetwas falsch sein muss. Also lassen Sie uns darüber sprechen.
Zunächst scheint mir, dass wir keine andere Wahl haben, als die, den gesunden Menschenverstand und die Intuition als unsere Ausgangspunkte zu nehmen. Ich vermute sehr stark, dass selbst diejenigen, die behaupten, nicht auf gesunden Menschenverstand und Intuition zu vertrauen, sich in Wirklichkeit, was unbewusste metaphysische Annahmen anbetrifft, die ganze Zeit auf beide verlassen.
Wenn ein philosophischer Standpunkt also dem gesunden Menschenverstand und der Intuition zuwiderläuft (wie z. B. die Ansicht, dass die äußere Welt nicht existiert), dann können wir mit Recht ein sehr kräftiges Argument zugunsten dieser Ansicht einfordern. In Abwesenheit einer Widerlegung gegen das, was uns der gesunde Menschenverstand und die Intuition sagen, sind wir zurecht gegenüber dieser Ansicht skeptisch und vollkommen rational darin, sie zu verwerfen. Während also die Äußerungen des gesunden Menschenverstandes und der Intuition gewisslich anfechtbar sind und gelegentlich einer Revision bedürfen, sind sie immer noch ein unverzichtbarer Ausgangspunkt, der nicht leichtfertig aufgegeben werden sollte.
Sind die Gesetze der Vernunft und die Gesetze der Realität dieselben, wie Menschen zur Zeit des Aristoteles glaubten? Seit der Zeit des Aristoteles ist nichts geschehen, das die Wahrheiten der Logik oder die Anwendbarkeit der Logik auf die Welt unterhöhlt hätte. Er identifizierte gültige Argumentformen, die bis heute noch anerkannt sind, z. B.: Alle As sind Bs; keine Bs sind Cs; deshalb gibt es auch keine As, die Cs sind.
Das ist ein unbestreitbar gültiges Argumentationsmuster. Der hauptsächliche Fortschritt der modernen Logik gegenüber der aristotelischen besteht darin, dass moderne Logiker zu der Erkenntnis kamen, die Prämissen des syllogistischen Argumentierens, wie zum Beispiel „alle As sind Bs“, haben selbst eine logische Struktur, welche die aristotelische Logik nicht aufdeckte. Eine Aussage wie „alle As sind Bs“ hat in der modernen Aussagelogik (der Logik der Sätze) die Struktur eines Konditionals: „Für jeden Gegenstand x gilt, wenn x ein A ist, dann ist x ein B.“ Das erlaubt uns, Ableitungen zu machen, welche die aristotelische Logik nicht ausdrücken kann, z. B.: „Was auch immer zu existieren beginnt, hat eine Ursache. Das Universum begann zu existieren. Also hat das Universum eine Ursache.“
Formale Logik ist zu einer Disziplin von unglaublich technischer Präzision und Strenge geworden, ähnlich der Mathematik. In der Tat läuft die formale Logik oft unter dem Namen mathematische Logik. Es gibt nichts am Fortschritt dieser Disziplin, das uns dazu verleiten sollte, anzuzweifeln, dass die Vernunft fähig ist, valide Inferenzen bezüglich der Realität zu machen. Die Entwicklung von Unterdisziplinen, wie der modalen Logik (der Logik, die von dem notwendigen und möglichen handelt) und der kontrafaktischen Logik (die mit untergeordneten konditionalen Aussagen umgeht), hat sogar einen großen Beitrag dazu geleistet, dass wir fähig sind, sorgfältiger und strenger zu argumentieren, wenn wir Metaphysik betreiben.
Verwechseln Sie aristotelische Logik nicht mit aristotelischer Physik! Aristoteles war nicht nur ein großer Philosoph, sondern auch ein Naturwissenschaftler. Wie zu erwarten ist, wurde seine wissenschaftliche Arbeit durch die spätere Wissenschaft überholt, da viel feinere Instrumente für die Erforschung der physikalischen Welt entwickelt wurden. Mit dem wissenschaftlichen Fortschritt in unserem Verständnis der Naturgesetze, wurde die aristotelische Physik durch die Newton’sche ersetzt, die wiederum durch Einsteins Physik ersetzt wurde, welche, so erwarten wir, bald durch die Vereinigung von Quanten- und Gravitationsphysik überholt werden wird. Bei jeder weiteren wissenschaftlichen Revolution wird die frühere Wissenschaft nicht einfach über Bord geworfen; ihre Wahrheiten werden vielmehr neu gefasst und in der sie ablösenden Theorie beibehalten und ihre Ungenauigkeiten aufgegeben.
Ich hoffe, Sie können erkennen, dass nichts davon irgendeinen Anlass gibt, die Effizienz der menschlichen Vernunft bei der Erkenntnis der Realität anzuzweifeln. Ganz im Gegenteil, das ist Zeugnis für die unglaubliche Kraft der menschlichen Vernunft!
Die Lektion für den natürlichen Theologen lautet hier, dass er wissenschaftlich gebildet sein muss und sich über aktuelle Entdeckungen und neue Theorien in der Wissenschaft auf dem Laufenden halten muss. Das ist der Grund, weshalb ich mich bemüht habe, in dieser Hinsicht verantwortlich zu handeln. Ich möchte eine Theologie haben, die wissenschaftlich informiert ist und dadurch eine integrative Sicht der Realität bieten.
Nun erinnern Sie uns ganz zurecht daran, dass, wenn es zu Themen wie Gott und Schöpfung kommt, wir Metaphysik betreiben und nicht Physik (obwohl die Physik Evidenz zur Unterstützung von Prämissen in einem metaphysischen Argument liefern kann, das logisch zu einer Schlussfolgerung führt, die von theologischer Bedeutung ist). Wenn wir also plausiblerweise wahre Prämissen haben, die durch die Standardregeln der Logik eine Schlussfolgerung von theologischer Bedeutung implizieren, warum sollten wir uns dann gegen diese Schlussfolgerung stellen?
An diesem Punkt tritt Ihr Kantianismus auf die Bildfläche. Sie behaupten: „Wenn wir über den Anfang der Zeit und über die Schöpfung und über Gott nachdenken, bringt unsere Vernunft doch widersprüchliche Vorstellungen hervor.“ Sie behaupten, die Vernunft führe uns in Antinomien hinein und deshalb sei ihr nicht zu trauen. Ich bin auf diese kantianische Behauptung in dem Buch The Kalam Cosmological Argument (1979) eingegangen. Siehe Appendix 2: „Das kalam-kosmologische Argument und die These von Kants erster Antinomie“.
KS, wenn Sie es ernst damit meinen, Ihre Vorbehalte zu beseitigen, dann lesen Sie bitte diesen Abschnitt. Ich weise dort nach, dass es keine Antinomie gibt, denn es ist nichts Inkohärentes daran, dass die Zeit einen Anfang hat. Kant dachte, damit die Zeit einen Anfang haben kann, müsse es eine Zeit vor der Zeit geben, während der nichts existierte. Das ist ein Fehler. Alles, was es erfordert, ist, dass es eine Zeit gab, der nicht irgendeine frühere Zeit vorausging. Weit davon entfernt, unverständlich zu sein, ist das genau die Vorstellung von einem Anfang der Zeit, die in der modernen Astrophysik verwendet wird. Beispielsweise charakterisiert der agnostische Kosmologe Sean Carroll kosmologische Modelle, die einen Anfang des Universums aufweisen, durch die Aussage: „Es gab eine Zeit solcher Art, dass es davor keine Zeit gab.“[1]
Gleicherweise besteht kein Problem darin, einen Schöpfer oder eine erste Ursache zu postulieren, der oder die zeitlos ohne das Universum existiert. Wiederum verwendet Carroll genau diese Vorstellung in Bezug auf eine Grenzbedingung bei der Raumzeit: „Es gibt kein logisches oder metaphysisches Hindernis, die konventionelle zeitliche Geschichte des Universums dadurch zu vervollständigen, dass man eine atemporale Grenzbedingung am Anfang miteinschließt.“[2] Gottes ewiger atemporaler Zustand ist sozusagen eine solche Grenzbedingung für die Zeit. Gottes Akt der Schöpfung des Universums ist simultan mit dem ins Dasein Kommen des Universums. Somit ist Gott atemporal ohne die Schöpfung und zeitlich seit der Schöpfung. Wo liegt also das Problem?
Was das Argument vom kontingenten Wesen zum metaphysisch notwendigen Wesen anbetrifft, worin soll da die Schwierigkeit liegen? Viele Philosophen glauben, dass abstrakte Objekte, wie Zahlen und andere mathematische Objekte, notwendigerweise existieren. Wo liegt also die Inkohärenz in der Vorstellung von einem notwendigen Wesen? Es ist ein Wesen, das in jeder eindeutig logischen Welt existiert. (Hier helfen uns die Fortschritte in modaler Logik, von denen ich zuvor sprach, tatsächlich, diese Vorstellung von einem metaphysisch notwendigen Wesen besser zu verstehen.) Wie lautet also der Einwand?
Diese Pseudo-Antinomien unterstützen somit nicht die radikale Schlussfolgerung, „dass wir nicht wirklich unseren Intuitionen in Bezug auf ihre logischen Schlussfolgerungen über die Grenzen der natürlichen Welt hinaus folgen sollten“. Wenn Sie also behaupten, „die Vernunft (…) versucht aber offensichtlich mit einem Bereich umzugehen, der nach einem bestimmten Punkt nicht mehr nach menschlicher Logik funktioniert. Wir mögen empfinden, dass wir einer Sache auf der Spur sind, aber das ist nur eine Illusion“, dann können wir zurecht den Spieß umdrehen und Sie fragen: „Woher wissen Sie das? Wie können Sie auf Basis Ihrer Sicht überhaupt irgendetwas darüber wissen, wie dieser Bereich aussieht? Wie können Sie wissen, dass menschliche Logik dort nicht funktioniert? Überhaupt, wie kann Logik „nicht funktionieren“? KS, Sie sind, wie Kant vor Ihnen in der Lage, dass Sie sich selbst widerlegen, indem Sie selber metaphysische Behauptungen aufstellen!
Die Lektion hieraus lautet nicht, dass wir das Denken einfach aufgeben, sondern dass wir sogar noch viel härter nachdenken sollten. KS, Sie sind noch lange nicht am Ende der Straße angelangt. Selbst als Atheist ist Ihre Wahl nicht auf Positivismus und Postmodernismus beschränkt. Aber warum am Atheismus festhalten? Der Theismus bietet eine intellektuell weite und reichlich lohnende Sicht, ganz zu schweigen von geistlichem Gewinn.
Und, KS, was soll ich auf Ihren letzten Abschnitt erwidern? „Kommen Sie schon!“ Sie wissen es doch besser als das. Sie können Theist und Christ sein und die Vier-Quellen-Hypothese des Pentateuchs und auch die darwinistische Evolutionstheorie glauben, wenn Sie meinen, dass die Indizien Sie dazu führen (siehe Fragen der Woche # 253, 269).
(Übers.: B. Currlin)
Link to the original article in English: https://www.reasonablefaith.org/writings/question-answer/the-limits-of-reason
[1] „Does the Universe Need God?“ in The Blackwell Companion to Science and Christianity, Hg.: James B. Stump and Alan G. Padgett (Blackwell Wiley, 2012). Für eine Diskussion von Carrolls Artikel hören Sie unsere drei Podcasts von Reasonable Faith.
[2] Ebd.
- William Lane Craig