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#693 Der historische Adam: Worum geht es?

October 02, 2020
F

Sehr geehrter Prof. Craig,

ich habe einige Fragen, die Ihr Interview mit Dr. Joshua Swamidass auf seiner Website „Peaceful Science“ betreffen. Das Interview hatte den Titel „William Lane Craig beendet seine Suche nach Adam und Eva.“ Kurz nach Beginn des Interviews (0:54 bis 1:01) machten Sie ein paar Aussagen, die mir rätselhaft sind. Ich hätte gerne Ihre Meinung und Klarstellung zu den folgenden beiden Punkten:

1. Dr. Swamidass fragte Sie, worum es Ihrer Meinung nach bei dieser Suche im Tiefsten ging, als Sie sie begannen, worauf Sie antworteten: „So verrückt das klingt . . ., es ging um die Göttlichkeit Christi.“ Wenn ich Sie richtig verstanden habe, fanden Sie es wichtig, aufzuzeigen, dass Adam und Eva historische Personen waren, weil Jesus (und die anderen Schriften des Neuen Testaments) offenbar diese Position vertrat, und wenn sich zeigen würde, dass Adam und Eva keine historischen Personen waren, würde Jesus als jemand dastehen, der etwas glaubte, das nicht stimmte. Meine Frage lautet: Wenn Ihre Recherchen Sie zu dem Ergebnis geführt hätten, dass Adam und Eva keine historischen Personen waren, hätten Sie dann aufgrund dieses Befundes gleich die Göttlichkeit Christi infrage stellen müssen? Oder hätten Sie weiter an seine Göttlichkeit geglaubt (sie subjektiv „gewusst“), aber sich halt schwergetan, diesen Glauben objektiv zu verteidigen?

2. Sie stimmten Dr. Swamidass zu, dass das Fundament unseres Glaubens die Auferstehung Christi ist. Aber an Christus glauben bedeutet ja nicht zwangsläufig an die Unfehlbarkeit der Bibel glauben, um die es nach Ihrer Aussage zu Beginn Ihrer Suche ebenfalls ging. Sie sagten, dass Sie diese Lehre nur höchst ungern aufgeben würden. In Q&A 626 schreiben Sie:

Wenn wir uns anschauen, wie Jesus das Alte Testament sah, erkennen wir, dass er es für das inspirierte und ganz und gar verlässliche Wort Gottes hielt, und als seine Jünger sollten wir dies auch tun. Wir glauben also an die Bibel, weil wir an Jesus glauben.

Meine Frage ist hier: Ist es immer noch Ihre Position, dass man die Göttlichkeit Christi schon allein aufgrund der historischen Belege für seine Auferstehung erkennen kann? Und wenn ja, können wir weiterhin von ganzem Herzen an die Unfehlbarkeit des Alten Testaments glauben, sodass die Lehre von der biblischen Unfehlbarkeit nicht in Gefahr ist?

Ich danke Gott für Ihren Dienst, der mir in so vieler Weise zum Segen geworden ist. Wo immer ich kann, empfehle ich Ihre Schriften weiter. Es ist etwas traurig, dass ich, obwohl ich als evangelikaler Christ aufgewachsen bin, erst durch Sie dazu ermutigt worden bin, Gott auch mit meinem Verstand zu lieben. Möge Gott Sie weiter zum Segen der Menschen gebrauchen.

Sam

Canada

Prof. Craigs Antwort


A

Ich finde Ihre Frage wichtig, Sam, weil meine Ausführungen zu diesem Thema von einem atheistischen Podcaster missverstanden worden sind, der den Eindruck erweckt, als sähe ich keine andere Möglichkeit, als die Göttlichkeit Christi fahren zu lassen, sollte sich herausstellen, dass es keinen historischen Adam gab. Aber das ist definitiv nicht meine Position.

Wie jeder, der meine Arbeit kennt, Ihnen bestätigen wird, beginne ich, wenn ich mit einem Einwand gegen den christlichen Glauben konfrontiert werde, typischerweise damit, dass ich den schlimmstmöglichen Fall annehme: „Gesetzt den Fall, dieser Einwand ist wahr – was dann?“ Oft zeigt sich, dass selbst das allerschlimmste Szenario nicht hoffnungslos ist. In vielen Fällen kann der Christ plausible Schritte tun, um mit der Situation fertigzuwerden, selbst wenn der Einwand wahr wäre.

1. Und so möchte ich die Antwort auf Ihre erste Frage folgendermaßen beginnen: „Nehmen wir an, der Kritiker hat recht und die wissenschaftliche Untersuchung der Fakten ergibt, dass es keinen historischen Adam gab. Was bedeutet dies für den christlichen Glauben?“ Viele haben darauf hingewiesen, dass dann, wenn es keinen historischen Adam gegeben hat, die klassische Lehre von der Erbsünde, nach welcher die Sünde Adams auf alle seine Nachfahren übergeht, den Bach hinuntergeht. Das sehe ich auch so; aber da ich, wie ich in meinen Defenders 3-Vorträgen über die Erbsünde ausführe, die Lehre von der Erbsünde nicht für wesentlich für den christlichen Glauben halte, gibt es hier meiner Meinung nach kein wirkliches Problem. Wenn dies die einzige Folge der Nichtexistenz Adams ist, dann ist der schlimmstmögliche Fall nur halb so schlimm.

Eine meiner Meinung nach ernstere Folge der Nichtexistenz Adams wäre ihre Bedeutung für die Lehre von der Inspiration der Bibel und von der Inkarnation Christi. Denn wenn die Bibel eindeutig lehrt, dass es einen historischen Adam gab, dann hätte eine Widerlegung dieser Lehre Konsequenzen für unser gesamtes Bibelverständnis, speziell was die Zuverlässigkeit und Wahrheit der Bibel angeht. Es hätte sich dann gezeigt, dass die Bibel Dinge lehrt, die nicht wahr sind. Doch schlimmer noch: Wenn, wie dies der Fall zu sein scheint, Jesus selber an die Historizität von Adam und Eva glaubte (Matthäus 19,4-6), dann wäre er selber bezüglich Adam und Eva im Irrtum gewesen, was unvereinbar mit seiner Allwissenheit ist. Und da die Allwissenheit eine wesentliche Eigenschaft Gottes ist, droht die Verneinung des historischen Adam die Göttlichkeit Christi und mit ihr den klassischen christlichen Glauben zunichtezumachen.

Hier eine Zusammenfassung der Optionen, wie wir sie meiner Meinung nach hier haben:

Der historische Adam

Unvereinbar mit den Ergebnissen der Wissenschaft

Vereinbar mit den Ergebnissen der Wissenschaft

Möglichkeit 1: Verfasser der Bibel und Jesus lehren Dinge, die wissenschaftlich falsch sind.

Möglichkeit 1: Wir müssen 1. Mose 1-11 nicht wörtlich nehmen.

Möglichkeit 2: Verfasser der Bibel und Jesus glauben Dinge, die wissenschaftlich falsch sind, aber sie lehren sie nicht.

Möglichkeit 2: Die einschlägigen Ergebnisse der modernen Wissenschaft stimmen nicht.

 

 

Wenn die Existenz des historischen Adam mit den (richtig verstandenen) Ergebnissen der Wissenschaft kompatibel ist (vgl. die rechte Seite des Diagramms), dann gibt es kein Problem. Dies ist die Position, die ich vertrete.

Aber nehmen wir einmal an, das schlimmste Szenario (siehe die linke Seite des Diagramms) würde stimmen. Wenn es keinen historischen Adam gab, besteht eine Option darin, zu sagen, dass die Bibel irrtümlicherweise die Existenz eines historischen Adam lehrt, aber gleichzeitig (unter der Annahme, dass Inspiration Irrtumslosigkeit garantiert) den Bereich der Inspiration der Bibel (und damit die Garantie ihrer Irrtumslosigkeit) auf den geistlichen bzw. theologischen Inhalt der Bibel zu begrenzen. Nach diesem Modell hat Gott beschlossen, sich mit Hilfe der oft falschen Vorstellungen und Denkweisen einer Kultur zu offenbaren und die Weizenkörner theologischer Wahrheiten mit den Spelzen der von der Bibel gelehrten naturwissenschaftlichen und historischen Irrtümer zu verpacken. Viele heutige Theologen haben sich für diesen Weg entschieden.

Alternativ könnten wir behaupten, dass die Verfasser der Bibel durchaus an eine Sechs-Tage-Schöpfung, einen historischen Adam, eine weltweite Sintflut usw. glaubten, diese Dinge aber nicht lehrten. Da aber die Irrtumslosigkeit der Inspiration nur das betrifft, was die Bibel ausdrücklich lehrt, kann uns die Wahrheit dessen, was die biblischen Verfasser persönlich glaubten, egal sein. Zahlreiche moderne Bibelforscher haben sich für diese Option entschieden, um mit solchen Elementen des 1. Buches Mose wie dem dreistöckigen Kosmos, den Wassern über dem Firmament und einem geozentrischen Universum klarzukommen – Elemente, die für die geistlichen Lehren der Bibel, die wahr und verlässlich sind, bloßes Beiwerk sind –, und einige wenden dieses Modell auch auf den Glauben an einen historischen Adam an. Diese Option unterscheidet sich insofern von der ersten, als sie verneint, dass die anstößigen Aussagen zur biblischen Lehre gehören. Der Pferdefuß bei dieser Option ist die Plausibilität der Unterscheidung zwischen dem, was der biblische Verfasser glaubte, und dem, was er lehrte.

Aber es gibt hier ein noch tieferes Problem. Wenn es keinen historischen Adam gab, müssen wir nicht nur die Inspirationslehre anpassen, sondern auch die Lehre von der Menschwerdung Jesu, um Platz für einen Jesus zu schaffen, der Irrtümer glauben konnte. Eine Unterscheidung zwischen dem, was Jesus glaubte, und dem, was er lehrte, bringt uns hier nicht weiter, da das Problem, vor das seine Göttlichkeit uns stellt, genau darin besteht, dass er unfähig war, Dinge zu glauben, die nicht wahr waren.

Was tun, christliche Theologen? Die vielleicht beste Methode, dieses Problem zu lösen, ist die, dass man unterscheidet zwischen dem Akzeptieren einer Proposition p und dem Glauben an sie. Diese Unterscheidung spielt eine wichtige Rolle in der Philosophie der Mathematik, im Zusammenhang mit den ontologischen Festlegungen der Sprache der Mathematik. Manche Denker behaupten, dass der Glaube an die Wahrheit selbst so simpler arithmetischer Aussagen wie 2+2 = 4 einen dazu verpflichtet, an die Realität von vom menschlichen Bewusstsein unabhängigen platonistischen Entitäten wie der Zahl 4 zu glauben. Und der Glaube an die Axiome der Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre verpflichtet uns angeblich auf den Glauben an die Realität einer unendlichen Menge – eine extravagante metaphysische Festlegung. Die meisten Mathematiker und Wissenschaftler dürften nicht davon ausgehen, dass sie durch ihre Annahmen oder Aussagen derartige metaphysische Festlegungen vorgenommen haben. Und so ist es üblich, eine Unterscheidung zu machen zwischen dem Akzeptieren einer mathematischen Aussage und dem Glauben an diese mathematische Aussage. Diese Unterscheidung impliziert keine intellektuelle Unaufrichtigkeit bei dem Mathematiker oder Wissenschaftler; dieser hat möglicherweise noch nie über seine ontologischen Festlegungen nachgedacht. Man kann den Platoniker mit Fug und Recht dazu auffordern, doch bitte sehr nachzuweisen, dass die meisten Mathematiker und Wissenschaftler, die mathematische Existenzsätze bejahen bzw. benutzen, allen Ernstes glauben, dass es die von dem Platonisten postulierten mathematischen Objekte tatsächlich „gibt“.

Auf ähnliche Weise könnten wir vielleicht einen Unterschied machen zwischen dem Akzeptieren von p durch Jesus und seinem Glauben an p. Es könnte sein, dass Jesus in seinem endlichen menschlichen Bewusstsein p akzeptierte, d. h. p verbal bejahte, ohne irgendwelche bewussten stillschweigenden Vorbehalte, und in praktischen Kontexten von p ausging – aber ohne p zu glauben. Denn das, was die Person Christi glaubte, ist das, was der göttliche Logos – die zweite Person der Trinität – glaubte, denn der Logos (und nicht das menschliche Bewusstsein Christi) ist die Person, die Christus ist, und der Logos glaubt keine Irrtümer.

Man könnte vielleicht sogar behaupten, dass solch ein Modell uns zu einer plausibleren Sicht von der Inkarnation führt, die keine stillschweigenden Vorbehalte bei Jesus erfordert, wenn er sagt, dass das Senfkorn „unter allen Samen das kleinste“ ist (Matthäus 13,32) oder dass der Mond „seinen Schein nicht geben“ wird (Matthäus 24,29; die Implikation ist ja, dass der Mond aus sich selber leuchtet) oder dass das Auge „die Leuchte des Leibes“ ist (Matthäus 6,22). Dieses Modell könnte uns auch ein realistischeres Bild vom menschlichen Erleben Jesu geben. Ist es wirklich nie vorgekommen, dass der junge Jesus ein Geräusch aus dem Raum nebenan hörte und dachte: „Jakobus hat gerade einen Hammer fallen gelassen“, und in Wirklichkeit war es Joses? Oder dass er in der Ferne eine Person sah und dachte: „Da kommt Mirjam“, und in Wirklichkeit war es Elisabeth? Ist es für Jesus nicht ganz natürlich gewesen, zu glauben, dass die Sonne ihre Bahn durch den Himmel zieht oder dass der Mond buchstäblich „scheint“? Vielleicht könnte man dann entsprechend auch behaupten, dass Jesus zwar nicht im Ernst glaubte, dass Adam eine historische Person war, aber als Folge seiner Inkarnation diesen irrigen Glauben (und noch viele andere Irrtümer) seiner Zeitgenossen akzeptierte.

Worauf ich hinaus will, ist, dass selbst im schlimmsten aller möglichen Fälle (also dem, dass Adam nie existiert hat) die Situation nicht hoffnungslos ist. Es gibt Antworten. Allerdings würden diese Optionen uns erhebliche theologische Revisionen der Lehre von der Bibel und von der Inkarnation abverlangen. Zum Glück ist all dies rein theoretischer Natur, denn in meinem Buch habe ich aufgezeigt, dass keine Unvereinbarkeit besteht zwischen der Existenz des historischen Adam und den Ergebnissen der Wissenschaft bezüglich des Ursprungs der Menschheit. Es besteht also kein Anlass für uns, von dem schlimmsten aller Fälle auszugehen und uns die entsprechenden Optionen eigen zu machen.

2. Nun zu Ihrer zweiten Frage. Jawohl, die historischen Belege der Auferstehung Jesu bestätigen seinen Anspruch, göttlich zu sein. Die Frage ist, wie diese Göttlichkeit sich (geht man davon aus, dass Adam nicht existiert hat) mit seinen irrigen Ansichten über Adam verträgt. Aber da kann ich Sie auf meine Antwort auf Ihre erste Frage verweisen. Was die Einstellung Jesu zum Alten Testament betrifft, so gilt: Wenn Adam nicht existiert hat, könnten wir uns einem der beiden oben skizzierten schlimmstmöglichen Szenarios anschließen: Entweder das Alte Testament ist nur in seinen theologischen Lehren inspiriert oder es ist in allem, was es lehrt, voll verlässlich, auch wenn seine Autoren diverse persönliche Überzeugungen hatten, die falsch waren. In diesem Falle wäre die gesamte Bibel von Gott inspiriert und somit Gottes Wort für uns, aber zur Lehre dieses Wortes würde nicht die antike Wissenschaft gehören.

William Lane Craig

ENDANSWER

(Übers.: Dr. F. Lux)

Link to the original article in English: https://www.reasonablefaith.org/writings/question-answer/the-historical-adam-whats-at-stake/

- William Lane Craig