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#422 Das Sensenmann-Paradox

January 14, 2016
F

Sehr geehrter Prof. Craig,

vor kurzem habe ich das Video Ihres Vortrages über das kalam-kosmologische Argument gesehen, den sie auf der Alvin-Plantinga-Konferenz an der Baylor University gehalten haben. Ich war fasziniert von dem neuen „Sensenmann“-Argument (engl.: Grim Reaper Paradox) gegen eine endlose Serie von verursachenden Ereignissen [1]. Ich habe das Internet durchsucht und habe sehr wenig über dieses Argument gefunden. Ich habe mich gefragt, was genau Ihre Gedanken zu diesem Argument sind, und ob Sie es Ihrem Repertoire von Argumenten gegen eine ewige Serie von Ursachen hinzufügen werden. Danke für Ihren unermüdlichen Einsatz, und ich bete, dass der Herr Sie in Ihrem Dienst segnet, welcher für mein Leben bereits sehr segensreich war.

John

United States

Prof. Craigs Antwort


A

Es war ein Privileg und zugleich eine große Freude, in diese Konferenz zu Ehren eines so großen Denkers wie Alvin Plantinga eingebunden zu sein. Es gibt mehrere Variationen des Sensenmann-Paradoxes, die man in dem unterhaltsamen Buch von José Benardete Infinity: An Essay in Metaphysics (Oxford: Clarendon Press, 1964, S. 259-261) nachlesen kann.

Diejenigen, die mit der Version des Argumentes von Pruss und Koons nicht vertraut sind, lade ich ein, sich vorzustellen, dass es eine abzählbar unendliche Menge von „Sensenmännern“ gibt (die wir als eine Art "Götter" identifizieren können, um allen physikalistischen [2] Einwänden vorzubeugen). Angenommen, Sie sind um Mitternacht noch lebendig. Sensenmann #1 wird Sie um 01:00 Uhr Nachts töten, wenn Sie dann noch leben. Sensenmann #2 wird Sie um 12.30 Uhr töten, wenn Sie dann noch leben. Sensenmann #3 wird Sie um 12:15 Uhr töten, wenn Sie dann noch leben. Und so geht es weiter. Die Situation ist jedenfalls denkbar – wenn man die Möglichkeit einer tatsächlich unendlich großen Anzahl von Dingen annimmt – aber sie führt zu einer Unmöglichkeit: Sie können nach Mitternacht nicht überleben, und doch können Sie von keinem Sensenmann zu irgendeiner Zeit getötet werden – denn es gibt immer einen, der noch früher zum Zuge kam! [3]

Graham Oppy, der vielleicht führende atheistische Philosoph der Welt, hat sich mit einem ähnlichen Paradoxon befasst, das von einer unendlichen Anzahl von Glocken ausgeht, von denen jede zu einer festgesetzten Zeit mit einem Dröhnen läutet, das den Hörer taub macht. Sie können Ihr Gehör nach Mitternacht nicht beibehalten, und doch kann kein Dröhnen irgendeiner Glocke Sie taub machen! Wie antwortet Oppy nun darauf? Er sagt, Ihre Taubheit ist nicht das Ergebnis des Dröhnens einer bestimmten Glocke, sondern der gemeinsame Effekt unendlich vieler Glockenklänge [4]. Diese Antwort schließt nicht nur eine höchst bizarre Art von rückwirkender Kausalität ein, wie Bernadete hervorhebt [5], sie ist auch in keinem Fall anwendbar auf die Sensenmann-Version, denn wenn Sie erst einmal tot sind, wird kein weiterer Sensenmann die Sense schwingen. Eine kollektive Handlung kommt hier also nicht in Frage.

Pruss und Koons zeigen, wie man das Paradoxon so umformulieren kann, dass die Sensenmänner über eine unendliche Zeit verteilt sind, statt nur über eine Stunde. Zum Beispiel könnte man die Dinge so anordnen, dass jeder Sensenmann seine Sense jeweils am 1. Januar des Vorjahres schwingt. Man kann das "heute" nicht erleben, und doch kann kein Sensenmann einen zu irgendeiner Zeit töten.

Ich habe mir bislang nicht viele Gedanken über das Paradoxon gemacht, aber es scheint mir direkt gegen die Kontinuität der Zeit gerichtet zu sein, und ist als solches recht überzeugend. Wir sollten uns die Zeit nicht als eine Zusammensetzung aus unendlich kurzen Momenten vorstellen, zwischen denen es eine unendliche Zahl weiterer Momente gibt. Das Paradoxon verstärkt eine Reihe anderer philosophischer Argumente, die dagegen sprechen, die Zeit nach dem Modell einer geometrischen Linie zu konstruieren, die aus unendlich vielen Punkten besteht. Glücklicherweise sind Philosophen und Physiker seit dem Aufkommen der Quantentheorie viel offener dafür geworden, Zeit und Raum als etwas Diskontinuierliches anzusehen, statt als etwas Kontinuierliches. Tatsächlich denken einige, dass es eben die Vorstellung der Kontinuität der Raumzeit aus der allgemeinen Relativitätstheorie ist, die wir aufgeben müssen, wenn wir eine einheitliche physikalische Theorie der Welt haben wollen.

Die Frage ist, ob dieses Paradoxon so umformuliert werden kann, dass es als Argument gegen die Unendlichkeit der Vergangenheit dienen kann. Es ist kein Problem, sich die Vergangenheit als eine Folge von Jahren vorzustellen, in der an jedem ersten Januar ein Sensenmann steht. Das Problem ist: Wenn man die Folge der Jahre unendlich in die Vergangenheit verlängert, gibt es keine Analogie mehr zur Mitternacht in der ursprünglichen Sensenmann-Geschichte. Es gibt keinen unendlich entfernten Punkt, an dem Sie am Leben waren und von dem aus Sie dann – erfolglos – versuchen, bis zur Gegenwart zu überleben. Da die Folge der Jahre keinen Beginn hat, auch keinen unendlich entfernten, macht es keinen Sinn zu sagen, dass Sie zwar einmal lebendig waren, aber die Gegenwart nicht erleben werden. Nach diesem Szenario, wenn die Sensenmänner bis in die Ewigkeit zurückreichen, waren Sie nie am Leben!

Also ist die Analogie zum Paradox mit den Sensenmännern nicht überzeugend. Wir müssen stattdessen eine kontrafaktische Aussage machen: etwa "Sie wären zu jedem Zeitpunkt t am Leben, wenn Sie nicht zuvor von einem Sensenmann niedergestreckt worden wären." Das scheint wenigstens eine kohärente Aussage zu sein. Sie könnten ja ein Wesen sein, das nicht dem von Aristoteles so bezeichneten Prozess des Werdens und Vergehens unterworfen ist, d.h. Sie würden von Natur aus ewig bestehen. Sie würden nur sterben, wenn ein Sensenmann Sie töten würde. Aber dann kommt das Paradox wieder zum Tragen: Sie können heute nicht am Leben sein, aber es kann Sie auch kein bestimmter Sensenmann töten (denn wie erwähnt hätte Sie jeweils schon ein früherer Sensenmann getötet, bevor irgendein Sensenmann mit seiner Klinge ausholen konnte).

So scheint es mir, dass dieses Paradoxon einem Teilargument aus dem kalam-kosmologischen Argument ähnelt, mit dem man die Möglichkeit einer unendlichen Vergangenheit durch sukzessive Addition ausschließt. Ich möchte meine bereits bei der Baylor-Konferenz ausgesprochene Einladung an theistische Philosophen hier nochmal wiederholen, diese Frage eingehender zu erforschen.

(Übers.: M. Ebeling; L.: RN)

Link to the original article in English: http://www.reasonablefaith.org/grim-reaper-parado

  • [1]

    Das kalam-kosmologische Argument lautet in der Formulierung von W.L. Craig:
    P1: Alles, was angefangen hat zu existieren, hat eine Ursache.
    P2: Das Universum hat einmal angefangen zu existieren.
    K: Also hat das Universum eine Ursache. (Diese Ursache ist raumlos, zeitlos (also ewig), sehr mächtig, sehr intelligent, persönlich - also Gott).

    Als Unterstützung für Prämisse 2, also dass das Universum nicht schon ewig existiert, führt W.L. Craig sowohl naturwissenschaftliche Argumente (wie die Urknalltheorie) als auch philosophische Argumente an, wie etwa dass ein ewiges Universum beinhalten würde, dass es eine unendliche Abfolge von Ereignissen geben müsste, um bis zum Heute zu gelangen, dass es aber keine aktual unendliche Reihe von Ereignissen geben kann.

    In dieser Frage widmet sich W.L. Craig der Überlegung, ob das Sensenmann-Paradox ("Grim-Reaper-Paradox") als eine weitere Version dieses philosophischen Arguments für den Anfang des Universums dienen (nämlich gegen ein aktual (tatsächliche) unendliche Reihe.

    Eine ausführlichere Darstellung des kalam-kosmologischen Arguments findet sich hier: http://www.reasonablefaith.org/german/Das-kalam-kosmologische-Argument

    Siehe auch http://www.reasonablefaith.org/german/Naturwissenschaftliche-Belege-fuer-das-kalam-kosmologische-Argument sowie http://www.reasonablefaith.org/defenders-2-podcast/s4, lectures 6-13. (A.d.L.)

  • [2]

    Der Physikalismus ist, kurz gesagt, die Sicht, dass es nur physische Dinge gibt (also nichts Übernatürliches, keinen Gott, keine Engel, und auch keine Seele; das, was uns als Geist oder Seele erscheint, lasse sich letztlich auf physische Dinge reduzieren).

    Es wird u.a. unterschieden zwischen reduktivem (eliminativem) und nicht-reduktivem Physikalismus.

    Vgl. http://www.reasonablefaith.org/defenders-2-podcast/transcript/s10-08

    Siehe auch http://plato.stanford.edu/entries/physicalism/

    Zu den philosophischen Problemen des Physikalismus in deutscher Sprache vgl. z.B. Markus Widenmeyer: Welt ohne Gott? Eine kritische Analyse des Naturalismus (Hänssler 2015).

    (A.d.L.)

  • [3]

    Als Erläuterung: Bevor irgendein Sensenmann Sie töten kann, sind Sie bereits tot, denn vor jeder Hinrichtung durch einen Sensenmann war bereits eine unendliche Zahl früherer Sensenmänner vorher dran, die bereit standen, Sie zu töten.

  • [4]

    Graham Oppy, Philosophical Perspectives on Infinity (Cambridge: Cambridge University Press, 2006), S. 83.

  • [5]

    Benardete, Infinity, p. 259.

- William Lane Craig