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#651 Auferstehung oder Himmelfahrt?

December 22, 2019
F

Sehr geehrter Prof. Craig,

ich bin ein großer Bewunderer Ihrer Arbeit. Ich glaube, ich kenne niemanden, der sich intensiver mit der Frage der Auferstehung Jesu beschäftigt hat als Sie.

Ich glaube zurzeit nicht an die Auferstehung, bin aber offen für gute Argumente. Ihre populärwissenschaftlichen Artikel haben mich vor kurzem dazu gebracht, Ihr 1989 erschienenes mehr wissenschaftliches Buch Assessing the New Testament Evidence for the Historicity of the Resurrection of Jesus komplett zu lesen. Dort schreiben Sie auf S. 414 etwas über die Visions-Hypothese, das ich nicht ganz verstehe. Vielleicht können Sie mir helfen. Sie schreiben:

Selbst wenn man voraussetzt, dass sie das Grab leer vorfanden, wären sie [die Jünger Jesu] [aufgrund von Visionen Jesu] wahrscheinlich zu dem Schluss gekommen, dass Jesus direkt in den Himmel aufgenommen worden war, ähnlich wie Henoch und Elia (1. Mose 5,24; 2. Könige 2,11-18).

Das Testament Hiobs 40 zeigt, dass die Entrückung in den Himmel etwas war, was für kürzlich Verstorbene wie für noch Lebende galt.

Ich glaube, was Sie hier meinen, ist, dass allein aufgrund der Erscheinungen Jesu sowie des leeren Grabes die Jünger Jesu wahrscheinlich zu dem Schluss kamen, dass er zurück in seinen sterblichen Leib auferweckt und dann in diesem sterblichen Leib in den Himmel entrückt wurde. Mit anderen Worten: Sie finden, dass die Visionshypothese, selbst dann, wenn man sie mit dem leeren Grab kombiniert, den frühchristlichen Glauben, dass der Leib Jesu „unsterblich gemacht“ wurde, nicht zu erklären vermag. Wollen Sie das aussagen? Und wenn ja, gab es nicht auch Juden, die spekulierten, dass die Leiber von Henoch, Elia und Mose im Himmel unsterblich wurden? So heißt es in Jesus Sirach 45,2:“Er [Gott] machte ihn [Mose] den Heiligen gleich an Herrlichkeit . . .“ (Einheitsübersetzung). Und im 2. Buch Henoch heißt es in 22,6-10: „Nimm Henoch und entkleide ihn der irdischen Gewänder! Salb ihn mit süßem Öl und kleid ihn in die Gewänder der Glorie!“

Wie kommen Sie angesichts dieser Spekulationen mancher Juden über Henoch und Mose zu der Behauptung, dass die Erscheinungen Jesu zusammen mit dem leeren Grab die Jünger nicht zu dem Schluss gebracht haben, dass der Leib Jesu an irgendeinem Punkt seiner Auferweckung von den Toten und seiner Entrückung in den Himmel Unsterblichkeit verliehen bekam?

John

United States

Prof. Craigs Antwort


A

Ich kann Ihnen nicht genug dafür danken, John, dass Sie die Zeit und Mühe investiert haben, meine wissenschaftliche Arbeit über die Historizität der Auferstehung Jesu zu lesen! Ich muss gestehen, dass ich sie manchmal nicht mehr ertragen kann, die oberflächlichen, ja oft unverschämten Sticheleien, die man auf Facebook als Antwort auf ernsthafte Argumente findet. Es kommt leider viel zu selten vor, dass jemand nicht bei den YouTube-Videos stehenbleibt, sondern sich in meine wissenschaftliche Arbeit vertieft.

Ihre Darstellung meiner Argumentation ist fast korrekt – fast, aber nicht ganz, sodass Sie dann doch nicht verstehen, was ich sagen will. Es geht mir nicht um das „Unsterblichwerden“ des Leibes Jesu. Wie Sie ganz richtig bemerken, werden im jüdischen Denken Menschen, die in den Himmel „entrückt“ bzw. leibhaftig in ihn aufgenommen werden, damit unsterblich. Das würde auch für Jesus gelten, falls er wie Henoch oder Elia in den Himmel aufgenommen wurde.

Nein, meine Frage ist, warum die Jünger, nachdem sie die Erscheinungen des Auferstandenen erlebt hatten, nicht, wie dies jüdischem Denken entsprochen hätte, zu dem Schluss kamen, dass er von Gott in den Himmel aufgenommen worden war und ihnen jetzt in seiner neuen Herrlichkeit erschien. Warum kamen sie stattdessen und im Widerstreit zum jüdischen Denken zu dem Schluss, das Jesus von Nazareth von den Toten auferweckt worden war, und zwar als Einzelner und vor der allgemeinen Auferstehung der Toten am Ende der Welt? Man kann nicht sagen, dass es das leere Grab war, das sie die Auferweckung Jesu verkündigen ließ und nicht seine Entrückung in den Himmel, denn das Testament Hiobs zeigt, dass auch kürzlich Verstorbene in den Himmel entrückt werden konnten, sodass man ihren Leib nicht mehr fand. Ihr Beispiel mit Mose ist hier sehr hilfreich, denn es ist ein weiteres Beispiel für einen Menschen in der jüdischen religiösen Literatur (Die Himmelfahrt des Mose), der nicht vor, sondern nach seinem Tod in den Himmel entrückt worden sein soll. Wie ich in meinem Buch erläutere, war die Vorstellung einer echten Auferstehung in ein Dasein der Herrlichkeit und Unsterblichkeit (im Gegensatz zu einer bloßen Wiederbelebung) im Judentum zurzeit Jesu völlig unbekannt. Dagegen hatten die damaligen Juden eine Kategorie, die das leere Grab und die Erscheinungen Jesu perfekt erklären konnte, nämlich die Entrückung bzw. Aufnahme in den Himmel.

Aber die Jünger verkündigten erstaunlicherweise nicht die Entrückung Jesu in den Himmel, sondern seine Auferstehung von den Toten. Wie N.T. Wright in seinem Großwerk Die Auferstehung des Sohnes Gottes umfassend darlegt, muss es irgendeine historische Erklärung für die von ihm so genannten „Mutationen“ der jüdischen Vorstellungen in der Verkündigung der Auferstehung Jesu durch die Jünger geben. Ich glaube, dass es die Körperlichkeit der Erscheinungen des Auferstandenen war, die sie dazu brachten, die Grenzen des jüdischen Denkens zu durchbrechen und überzeugt zu sein: „Diesen Jesus hat Gott auferweckt; dafür sind wir alle Zeugen“ (Apostelgeschichte 2,32).

(Übers.: Dr. F. Lux)

Link to the original article in English: https://www.reasonablefaith.org/writings/question-answer/resurrection-vs.-assumption-of-jesus

- William Lane Craig