#105 Atheismus: Eine Philosophie ohne Hoffnung?
July 12, 2016Sehr geehrter Prof. Craig,
ich las Ihren Artikel „Existiert Gott? Drei Gründe, warum es einen Unterschied macht, und fünf Gründe für Gottes Existenz“ [1], und darin erklären Sie:
„Wenn Gott nicht existiert, dann müssen wir letztendlich ohne Hoffnung leben. Wenn es keinen Gott gibt, gibt es letzten Endes keine Hoffnung, von den Unzulänglichkeiten unseres begrenzten Daseins erlöst zu werden.“
Ich muss dem einfach widersprechen. Ich denke, dass man als Atheist gewiss mit großer Hoffnung leben kann. Ich meine, wenn es keinen Gott gibt, dann müssen wir keine letzte Rechenschaft geben. Keine Angst, vor einen gerechten und heiligen Gott zu treten, um sich für das eigene Leben zu verantworten. Jeder kann dann so leben, wie er es will, ohne Angst vor Vergeltung. Das ist Hoffnung für den Atheisten.
Können Sie diese Art von Hoffnung widerlegen?
Danke,
Bill
United States
Prof. Craigs Antwort
A
Nun, Bill, was Sie da schreiben, ist gewiss eine ganz neue Verteidigung für die Hoffnung eines Atheisten: die Hoffnung, dem Gericht Gottes zu entgehen! Ich muss einräumen, dass ein Atheist hoffen kann – ja eigentlich sogar hoffen muss –, dass er nicht in die Hände des lebendigen Gottes fallen wird (Hebr. 10,31)!
Aber das widerspricht eigentlich nicht dem, was ich sagte. Ich habe einige konkrete Punkte unterschieden, in denen der Atheismus eine Philosophie ohne Hoffnung ist:
2. Wenn Gott nicht existiert, dann müssen wir letztendlich ohne Hoffnung leben.Wenn es keinen Gott gibt, gibt es letzten Endes keine Hoffnung, von den Unzulänglichkeiten unseres begrenzten Daseins erlöst zu werden.
Zum Beispiel gibt es dann keine Hoffnung auf Erlösung von dem Bösen. Obwohl viele Menschen danach fragen, wie Gott eine Welt erschaffen konnte, in der es so viel Böses gibt, wird doch das allermeiste Leid in der Welt durch die Unmenschlichkeit der Menschen untereinander verursacht. Der Schrecken zweier Weltkriege im Laufe des vergangenen Jahrhunderts hat den naiven Optimismus des 19. Jahrhunderts über den menschlichen Fortschritt praktisch zerstört. Wenn Gott nicht existiert, dann sind wir gefangen und ohne Hoffnung in einer Welt voll unnötigen und unlösbaren Leids, und es gibt keine Hoffnung auf Erlösung von dem Bösen.
Oder weiter: Wenn es keinen Gott gibt, dann gibt es auch keine Hoffnung auf Errettung vor dem Altern, vor Krankheiten und vor dem Tod. Auch wenn es Ihnen als Studierenden vielleicht schwer fällt, darüber nachzudenken: Es ist und bleibt eine nüchterne Tatsache, dass Sie, sofern Sie nicht in jungen Jahren sterben, eines Tages ein alter Mann oder eine alte Frau sein werden. Sie werden sich vergeblich gegen das Altern wehren und auf verlorenem Posten gegen das unerbittliche Fortschreiten von Verfall, Krankheit, vielleicht sogar Senilität ankämpfen. Und schlussendlich und unausweichlich werden Sie sterben. Es gibt kein Leben, das über das Grab hinausgeht. Der Atheismus ist folglich eine Philosophie ohne Hoffnung.
Beachten Sie, dass ich über die Unzulänglichkeiten unseres begrenzten Daseins spreche. Ich unterscheide insbesondere zwei: (i) das Böse und (ii) Alterung, Krankheit und Tod. Mir scheint, dass der Atheismus in diesen Dingen ohne Hoffnung ist. In einem berühmten Abschnitt klagte der Philosoph Bertrand Russell:
„Dass der Mensch das Produkt von Entwicklungen ist, die nicht wussten, welchem Zweck sie dienten; dass seine Herkunft, seine Entwicklung, seine Hoffnungen und Ängste, sein Lieben und seine Überzeugungen nur Ergebnis zufälliger Anhäufungen von Atomen sind; dass kein Feuer, kein Heldentum, kein noch so intensives Denken und Fühlen ein Leben über das Grab hinaus erhalten können; dass die Mühen aller Zeitalter, alle Hingabe, Inspiration, alle mittägliche Helle des menschlichen Genies im weiten Tod der Sonnensysteme zum Untergang verurteilt sind; dass schließlich der ganze Tempel menschlicher Leistung unausweichlich unter dem Schutt eines in Trümmer sinkenden Universums begraben werden muss – all das ist zwar nicht unbestritten, doch fast so gewiss, dass keine Philosophie bestehen kann, die diese Überlegungen verwirft. Nur im Gerüst dieser Wahrheiten, nur auf dem festen Fundament unnachgiebiger Verzweiflung kann die Wohnung der Seele sicher errichtet werden. [2]
Sartre, Camus und viele andere Atheisten haben die Verzweiflung, in die der Atheismus führt, mit beredten Worten beschrieben. In diesem Sinn ist der Atheismus eine Philosophie ohne Hoffnung.
Paradoxerweise bietet das Christentum im Gegensatz dazu nicht nur eine Hoffnung auf Befreiung vom Bösen und von Alter, Krankheit und Tod, sondern bietet auch die Hoffnung, an der Ihnen selbst gelegen ist: Befreiung aus den Händen eines gerechten und heiligen Gottes. Das war Martin Luthers große Erkenntnis. Die selbe Gerechtigkeit Gottes, die – außerhalb von Christus – zu Luthers Verdammnis als Sünder führte, genau diese Gerechtigkeit wurde zur Quelle des Heils für ihn als einen Menschen, der durch den Glauben mit Christus vereint ist. Denn wenn wir auf Christus als unseren Erlöser und Herrn vertrauen, rechnet Gott uns die Gerechtigkeit Christi an. „Also gibt es jetzt keine Verdammnis für die, die in Christus Jesus sind“ (Röm 8,1).
Jede Hoffnung also, die der Atheist haben kann, genießt der Christ erst recht, denn wir entgehen nicht nur dem Gericht, sondern genießen den Segen der Erlösung. Nun könnten Sie sagen, dass Christen damit auf die Möglichkeit des Atheisten verzichten, straffrei zu handeln. Zugegeben; aber, Bill, so würde ich gar nicht handeln wollen! Wenn wir zu Christus kommen, ändert Gott unsere Wünsche, sodass wir ein gerechtes und einwandfreies Leben führen wollen. Die Bibel sagt, die Frucht der Erfüllung unseres Lebens mit dem Geist Gottes ist Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut, Enthaltsamkeit (Gal 5,22). Betrachten Sie einmal diese Aufzählung persönlicher Tugenden. Ist das nicht im Grunde die Art von Mensch, die Sie sein wollen?
Ein letzter Punkt: Sie haben die Hoffnung des Atheisten beschrieben. Wie fest ist diese Hoffnung? Wie gut ist sie begründet? Die meisten Atheisten, mit denen ich sprach, geben zu, dass der Atheismus sich nicht beweisen lässt; ja, viele beharren sogar darauf. Aber woher weiß man dann, dass der Atheismus wahr ist? Die Hoffnung des Christen ist fest begründet, nicht nur durch das Zeugnis des Heiligen Geistes, sondern auch durch die Argumente der natürlichen Theologie und der Belege für Jesus und seine Auferstehung. Aber die Hoffnung des Atheisten hat nach seinem eigenen Eingeständnis keine starke Grundlage. Was ist, wenn Ihre Hoffnung ein schwaches Fundament hat? Was ist, wenn Sie sich irren?
(Übers.: M. Wilczek)
Link to the original article in English: http://www.reasonablefaith.org/atheism-a-philosophy-without-hope
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Bertrand Russell, „A Free Man’s Worship“. In: The Basic Writings of Bertrand Russell, hrsg. von Robert E. Egner und Lester E. Denonn. New York 1961. S. 67. Das deutsche Zitat ist entnommen aus: Michio Kaku, Die Physik der unsichtbaren Dimensionen: Eine Reise durch Zeittunnel und Paralleluniversen, übersetzt von Hainer Kober, Reinbek 2013
Bertrand Russell, „A Free Man’s Worship“. In: The Basic Writings of Bertrand Russell, hrsg. von Robert E. Egner und Lester E. Denonn. New York 1961. S. 67. Das deutsche Zitat ist entnommen aus: Michio Kaku, Die Physik der unsichtbaren Dimensionen: Eine Reise durch Zeittunnel und Paralleluniversen, übersetzt von Hainer Kober, Reinbek 2013
- William Lane Craig