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#379 Antiplatonismus und moralischer Realismus

November 10, 2016
F

Sehr geehrter Prof. Craig,

herzlichen Glückwunsch zur Fertigstellung der Rohfassung Ihres Buches über abstrakte Objekte und Aseität, nach zwölf Jahren Arbeit!

In Ihrer Facebook-Mitteilung schreiben Sie: „Ich halte mittlerweile den Antirealismus für eine plausiblere Position.“

Kann man bei den einen Dingen ein Antirealist sein und bei anderen ein Realist? Befürworten Sie z.B. nicht mehr die „realistische“ Lösung des Euthyphron-Dilemmas? Gründen Sie das Gute nicht mehr in Gottes Wesen? Könnten abstrakte Objekte nicht im Logos (im Sinne eines göttlichen, nicht platonischen, Realismus) begründet sein?

Danke für alles, was Sie für Christus und sein Reich tun!

Maryann Spikes, Vorsitzende
The Christian Apologetics Alliance

New Zealand

Prof. Craigs Antwort


A

Danke, Maryann, dass Sie mir Gelegenheit geben, meine Position zu diesem Thema zu erläutern. Nein, ich habe meine Meinung zur richtigen Lösung des Euthyphron-Dilemmas nicht geändert. Lassen Sie mich erklären.

Meine Arbeit über die Aseität Gottes richtet sich nicht gegen den Realismus, sondern gegen den Platonismus. Ich lehne die Vorstellung, dass solche Dinge wie Zahlen, Propositionen, Eigenschaften und mögliche Welten abstrakte Objekte sind, die unabhängig von Gott existieren, ab, weil solch eine Sicht unvereinbar mit dem Status Gottes als der einen letzten Wirklichkeit ist. Mein Antiplatonismus liegt auf einer Linie mit meiner Ablehnung des, wie ich ihn genannt habe, atheistischen moralischen Platonismus, also der Auffassung, dass moralische Werte platonische abstrakte Objekte sind. In meinen Veröffentlichungen bringe ich drei Einwände gegen den atheistischen moralischen Platonismus. [1]

Wenn ich also sage, dass es objektive moralische Werte und Pflichten gibt, liegt die Betonung nicht auf der Metaphysik, sondern auf der Objektivität (im Gegensatz zu einer bloßen Subjektivität) moralischer Werte und Pflichten. Ich behaupte, dass gewisse Dinge objektiv gut oder böse sind und gewisse Handlungen objektiv richtig oder falsch. Dies ist ein Realismus in einem anderen Sinne des Wortes „Realismus“. Moralischer Realismus in diesem Sinne ist die Position, dass moralische Aussagen objektiv wahr oder falsch sind. In einem anderen Sinne ist moralischer Realismus die Position, dass es in der Welt bewusstseinsunabhängige Objekte gibt, die moralische Werte oder Pflichten sind und die wir in unser ontologisches Inventar der Dinge aufnehmen müssen. Ich bin ein moralischer Realist in dem ersten, aber nicht in dem zweiten Sinne.

Was macht nun moralische Aussagen objektiv wahr oder falsch? Es ist Gott selber, das konkreteste Objekt, das es je gab! Er ist das Paradigma moralischer Güte, und die Gebote, die er uns gegeben hat, sind unsere moralischen Pflichten. Auf diese Weise wird der Platonismus vermieden, die Objektivität moralischer Güte und Pflichten sichergestellt und das Euthyphron-Dilemma geschickt umgangen.

Ich habe keine theologischen Probleme mit einem nichtplatonischen Realismus, wie z.B. dem göttlichen Konzeptualismus, der, wie Sie anmerken, davon ausgeht, dass solche Dinge wie Zahlen, Propositionen, Eigenschaften und mögliche Welten im Logos gründen, sozusagen als Gedanken im Gehirn Gottes. Ähnlich könnte man sagen, dass z.B. Gerechtigkeit ein göttlicher Gedanke und ein objektives moralisches Gut ist, weil Gott selber gerecht ist. Man könnte auch den konzeptualistischen Teil fallen lassen und einfach sagen, dass es objektiv gut ist, gerecht zu sein, weil Gott gerecht ist. Ich habe nie vorgehabt, mehr zu behaupten, als in dieser letzten Aussage steckt.

Was Ihre Frage betrifft, ob man bei den einen Dingen ein Antirealist sein kann und bei anderen ein Realist, so kann man nicht nur bei den einen Dingen ein Realist sein und bei anderen nicht, sondern man kann sogar bei den einen Dingen ein Platonist sein und bei den anderen nicht! Solange die abstrakten Objekte erschaffen und nicht unerschaffen sind, ist die Aseität, die nur Gott zukommt, nicht berührt. An diesem Punkt können wir fragen: Gibt es denn erschaffene abstrakte Objekte? Es ist klar, dass solche Dinge wie Zahlen, Propositionen, Eigenschaften und mögliche Welten, wenn sie existierten, nichterschaffen wären. Aber wie ist das mit gewissen künstlerischen Objekten, wie literarischen Werken oder Musikkompositionen? Christy Mag Uidhir schreibt in seinem Buch Art and Abstract Objects [2], dass die herrschende Theorie in der Ästhetik heute die ist, dass es solche Dinge wie künstlerische Abstrakta gibt und dass Kunstwerke notwendigerweise erschaffene Objekte sind. Woraus folgt, dass manche Kunstwerke erschaffene abstrakte Objekte sind. In dieser Sicht ist Beethovens Fünfte ein abstraktes Objekt, das von Beethoven geschaffen wurde und das in verschiedenen Kopien und Aufführungen immer wieder neu realisiert wird. Wie Uidhir auch, neige ich gegenüber solchen abstrakten Kunstobjekten nicht zum Realismus (obwohl ich, in einem anderen Sinne, ein Realist bin, wenn es darum geht, ob ästhetische Aussagen objektiv wahr oder falsch sind!), habe aber keine theologischen Einwände gegen sie. Wenn Sie sie in Ihre Ontologie aufnehmen wollen – bitte sehr!

Ähnlich neige ich heute dazu, bezüglich solcher Dinge wie Zahlen, Propositionen, Eigenschaften und möglichen Welten den Konzeptualismus als überflüssig, wenn nicht sogar falsch zu betrachten. Das Gleiche gilt für moralische Werte. Das Wichtige ist, dass die Objektivität moralischer Wahrheiten in Gott gründet und nicht in irgendwelchen abstrakten Entitäten, die unabhängig von Gott sind.

(Übers.: Dr. F. Lux)

Link to the original article in English: https://www.reasonablefaith.org/anti-platonism-and-moral-realism

  • [1]

    W.L. Craig, Reasonable Faith (Wheaton, Ill.: Crossway Books, 2008), S. 178f.

  • [2]

    Christy Mag Uidhir, „Introduction: Art, Metaphysics, and the Paradox of Standards”, in: ders. (Hg.), Art and Abstract Objects (Oxford: Oxford University Press, 2012), S. 7.

- William Lane Craig