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#108 Allwissenheit, ewiges Leben und aktuale Unendlichkeit

July 12, 2016
F

Hallo Herr Prof. Craig,

ich habe über die Allwissenheit Gottes im Zusammenhang mit der Unendlichkeit nachgedacht.

Es fällt mir schwer, einen allwissenden Gott mit einer unendlichen Zukunft in Einklang zu bringen. Nachdem ich den Artikel „The Kalām Cosmological Argument and the Possibility of an Actually Infinite Future (1999)“ von Eric Sotnak [1] gelesen habe, bin ich von seinem Argument überzeugt, aber das stimmt nicht mit meiner theologischen Auffassung überein, dass Gott allwissend ist.

Der Teil seines Argumentes, den ich überzeugend fand, war [2]:

„(AL1) Gottes Intellekt weiß, dass Petrus‘ Leben nach dem Tod unendlich ist.
(AL2) Wenn Gottes Intellekt weiß, dass Petrus‘ Leben nach dem Tod unendlich ist, dann weiß Gottes Intellekt, dass Petrus‘ Leben nach dem Tod entweder potentiell unendlich oder aktual unendlich ist.
(AL3) Wenn Gottes Intellekt weiß, dass Petrus‘ Leben nach dem Tod potentiell unendlich ist, gibt es Tage in Petrus‘ Leben nach dem Tod, die geschehen werden, die in Gottes intuitivem Wissen nicht enthalten sind.
(AL4) Es gibt nichts, was geschehen wird, das nicht in Gottes intuitivem Wissen enthalten ist.
(AL5) Deshalb weiß Gottes intuitives Wissen, dass Petrus‘ Leben nach dem Tod aktual unendlich ist.
(AL6) Wenn Gottes intuitives Wissen weiß, dass Petrus‘ Leben nach dem Tod aktual unendlich ist, dann ist Petrus‘ Leben nach dem Tod aktual unendlich.
(AL7) Somit ist Petrus‘ Leben nach dem Tod aktual unendlich.
(AL8) Wenn Petrus‘ Leben nach dem Tod aktual unendlich ist, dann ist etwas aktual Unendliches möglich.
-----------------------------------------------------------------------------
(AL9) Somit ist etwas aktual Unendliches möglich.“

Da ich aus dem Ingenieurwesen komme und kein Logiker bin, gibt es vielleicht irgendeinen Logikfehler dieser Argumentation, den ich aber nicht erkennen kann.

Es ist die Schwierigkeit mit einer potentiellen und aktualen Unendlichkeit, die mich verwirrt. Die Sache ist, dass es plausibel erscheint, dass Gott – wenn er fähig ist, alles zu erfassen – fähig sein muss, die aktuale Unendlichkeit von Petrus‘ ewigem Leben nach dem Tod zu kennen. Aber dies scheint unmöglich, da eine Unendlichkeit ja nicht aktual durchschritten werden kann. Wird dadurch also impliziert, dass Gott nicht alles weiß?

Ich bitte um Hilfe.

Ein Verwirrter,

David

United States

Prof. Craigs Antwort


A

Für diejenigen Leser, die den eigentlichen Punkt dieses Arguments verwirrend finden, möchte ich sagen, dass ein Schlüsselaspekt des kalām-kosmologischen Arguments für einen persönlichen Schöpfer des Universums, das von einer endlichen Vergangenheit ausgeht, die Behauptung ist, dass es eine aktual unendliche Zahl von Dingen nicht geben kann. Einwände der obengenannten Art versuchen zu zeigen, dass ein orthodoxer Theist das kalām-kosmologische Argument nicht vertreten kann. Diese Art von Einwänden zielt weniger darauf, das Argument zu widerlegen, als seine Verfechter in Verlegenheit zu bringen, indem sie gezwungen werden, theologisch unorthodoxe Ansichten zu übernehmen.

Ich stelle mit Interesse fest, dass Sotnak sein Argument in Bezug auf Gottes intuitives Wissen formuliert hat, was dazu dient, seinen Einwand von Argumenten zu unterscheiden, die sich auf die Annahme stützen, dass der Modus des Wissens Gottes propositional sei, wie ich in Frage der Woche 106 erörtert habe [3]. Sotnak möchte beweisen, dass selbst dann, wenn Gottes Wissen eine ungeteilte Intuition der Wirklichkeit ist, seine Allwissenheit ein Problem für die Behauptung aufwirft, dass es eine aktual unendliche Zahl von Dingen nicht geben kann.

Um Sotnaks Argument zu beantworten, David, scheint mir, dass man (AL3) verneinen sollte. Da zukünftige Dinge und Ereignisse nicht wirklich existieren, das heißt da zeitliches Werden ein objektives Merkmal der Welt ist, ist Petrus‘ Leben nach dem Tod potentiell unendlich. Unendlichkeit in diesem Sinne ist ein reines Grenzkonzept, eine Grenze, der sich die Tage von Petrus‘ Leben nach dem Tod unaufhörlich nähern, ohne sie je zu erreichen. Somit folgt, dass es einfach keine Tage „jenseits“ dieser Grenze gibt, die Gott unbekannt bleiben würden. (AL3) ist also völlig verfehlt.

Vielleicht liegt die implizite Annahme von Sotnak darin, dass Petrus‘ Leben nach dem Tod, wenn er ewig leben wird, aktual unendlich sein wird. Aber in diesem Fall unterstellt er nur, was er eigentlich beweisen müsste, nämlich, dass Petrus‘ Leben nach dem Tod nicht nur potentiell unendlich sein kann. Was fehlt, ist irgendein Argument für diese Annahme. Außerdem wird in diesem Fall alles Reden über die Allwissenheit schlicht zu einer überflüssigen Ausschmückung. Das Argument sollte einfach sein, dass Unsterblichkeit die Existenz von etwas aktual Unendlichem impliziert. Allwissenheit kommt überhaupt nicht ins Spiel. Ob Unsterblichkeit die Existenz von etwas aktual Unendlichem impliziert, war ein zentrales Thema in meinem Dialog mit Wes Morriston über das kalām-kosmologische Argument, den ich Ihnen empfehle (siehe den Podcast „Debate on the Kalām Argument“ auf der Reasonable Faith-Webseite).

(Übers.: M. Wilczek)

Link to the original article in English: http://www.reasonablefaith.org/omniscience-and-actual-infinity

  • [1]

    Ursprünglich erschienen in Philo, Vol. 2, No. 2 (1999), S. 41-52.

  • [2]

    Die Abkürzung „AL“ steht für „afterlife“, d.h. „Leben nach dem Tod“; Anmerkung d. Übers.

  • [3]

    Vgl. Frage der Woche 106: „Ist Gott aktual unendlich?“, http://www.reasonablefaith.org/german/qa106

- William Lane Craig