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#610 Sind wir Figuren in einem Buch?

April 27, 2019
F

Sehr geehrter Prof. Craig,

in der letzten Zeit wird viel über den Urknall und den Anfang des Universums geredet. Ich finde das alles überflüssig, weil ich der Meinung bin, dass wir eigentlich alle Personen in einem nicht-fiktiven „Buch“ sind, in dem wir leben und dessen Autor nicht nur der Schriftsteller des Universums ist, sondern auch die Verhaltensregeln, die er vorgegeben hat. Mir scheint, dass es völlig irrelevant ist, sich Gedanken darüber zu machen, was vor dem „Es war einmal …“ (Urknall) war. Mir erscheint es offensichtlich, dass der Autor dem Universum eine Substanz gegeben hat, der er seitdem Form gibt, und dass er die „Handlung“ vorantreibt und bestimmt. Er kann sogar sich selber in die Geschichte hineinschreiben, wie so viele menschliche Autoren das auch tun. Ich schätze, meine Frage an Sie ist, wie sich das Ihres Erachtens mit der Bibel verträgt und ob ich mit meiner Vorstellung richtig liege.

Vielen Dank,

Rustin

United States

Prof. Craigs Antwort


A

Im Laufe meiner Beschäftigung mit Gott und mit abstrakten Objekten habe ich auch viel über das Wesen der Fiktion gelesen und nachgedacht sowie über die sogenannte Pretence-Theorie, also die Theorie, dass abstrakte Objekte etwas Ähnliches sind wie Romanfiguren (z.B. Sherlock Holmes). Das Ergebnis ist, dass ich denke, dass zwar abstrakte Objekte in der Tat fiktionale Entitäten sein können, dass es aber theologisch und philosophisch inakzeptabel ist, zu glauben, dass wir selber bloß Figuren in einer Geschichte sind bzw., moderner ausgedrückt, Objekte in einer Computersimulation oder einem Hologramm.

Warum das? Nun, wir sind Personen, während fiktive Figuren, so sie denn überhaupt existieren, abstrakte Objekte sind. Gut, in den Geschichten von Conan Doyle ist Sherlock Holmes eine Person, aber das heißt nichts anderes, als dass es fiktiv ist, dass „Sherlock Holmes eine Person ist“ – genauso fiktiv wie, dass „Sherlock Holmes in der Baker Street 22B in London wohnt“. Keiner dieser beiden Sätze ist faktisch wahr; sie sind nur „wahr“ in der fiktiven Welt, die Conan Doyle geschaffen hat. Dagegen sind die Sätze „Sherlock Holmes ist ein Hund“ und „Sherlock Holmes wohnt in Toledo“ nicht fiktiv, denn in der fiktiven Welt der Conan Doyle-Geschichten sind sie nicht wahr. Entweder Sherlock Holmes existiert überhaupt nicht oder (aufgepasst!) er ist ein bloß abstraktes Objekt, über das man wahre Aussagen machen kann, z. B.: „Sherlock Holmes ist populärer als Hercule Poirot.“

Weiter: Die Figuren in einer Geschichte haben keinen freien Willen, denn alles, was sie in der Geschichte denken und machen, ist vom Verfasser der Geschichte festgelegt. Sicher, in der Geschichte können sie Personen mit einem freien Willen sein, aber das ist der gleiche Fall wie wenn man sagt, dass Holmes in der Geschichte in London wohnt. In der Realität wohnt er weder in London noch hat er einen freien Willen. Was auch bedeutet, dass fiktive Personen im Gegensatz zu realen Personen keine moralische Verantwortung haben.

Fiktive Figuren sind ferner absolut unvollständig. Hatte Sherlock Holmes die Schuhgröße 44? In der Welt der Fiktion ist dies weder wahr noch falsch. Im Gegensatz zu realen Personen sind fiktive Figuren weitgehend indeterminiert. Möglicherweise könnte man dieser unerwünschten Implikation entgehen, indem man sagt, dass Gott, alldieweil er allmächtig ist, die Figuren in seiner Geschichte voll determiniert machen könnte. Aber warum sollte er sich diese Mühe machen? Und wer soll denn dieses Buch überhaupt lesen?

Augenblick mal!, könnten Sie hier einwenden. Ich habe doch gemeint, dass wir Figuren in einem nicht-fiktiven Buch sind! Das macht es auch nicht anders. Selbst wenn das Buch aus lauter wahren Sätzen besteht, sind die Figuren in der Geschichte nicht die realen Personen, von der die Geschichte handelt. Dies wird offensichtlich in dem Fall, wo die realen Personen, von denen die Geschichte handelt, inzwischen tot sind! Literarische Figuren in einer wahren Geschichte sind immer noch (höchstens) abstrakte Objekte und nicht Personen aus Fleisch und Blut. Und jawohl, Gott könnte durchaus sich selber in die Geschichte hineinschreiben, so wie menschliche Autoren dies manchmal tun. Aber Gott ist eine konkrete Entität und kein abstraktes Objekt, und damit ist er nicht identisch mit der Figur, die in der Geschichte „Gott“ ist. Wenn die Geschichte wahr ist, müssen die Eigennamen der Figuren in ihr sich auf Personen beziehen, die außerhalb der Geschichte real existieren, und wer sind diese Personen, wenn nicht wir? Es ist uns nicht gelungen, einer realen, außerhalb der Geschichte existierenden Welt zu entkommen. Also: Es ist philosophisch und theologisch unmöglich, dass wir literarische Figuren sind, selbst in einer wahren Geschichte.

Darüber hinaus ist eine solche Sicht vollkommen ungerechtfertigt. Unsere Wahrnehmungen von uns selber und von der Welt um uns herum sind berechtigterweise basale Überzeugungen, die in unserer Erfahrung gründen und somit hundert Prozent rational sind. Es bräuchte ein widerlegendes Argument von unvorstellbarer Kraft, um den Glauben, dass ich eine Person bin, zu untergraben. Jedes solche Argument wird ausgestochen werden durch die Gewissheit, die ich habe, dass ich eine Person bin. Darüber hinaus haben jegliche skeptischen Argumente zugunsten der Schlussfolgerung, dass ich nur eine Figur in einer Geschichte bin, einen eingebauten Hang zur Aussichtslosigkeit, weil wir dann, wenn wir bloße Figuren in einer Geschichte sind, dem Zeugnis unserer eigenen kognitiven Fähigkeiten nicht mehr trauen können. Es ist ja der Autor, der alles, was wir denken, bestimmt, und keine unserer Wahrnehmungen ist mehr verlässlich.

Und jetzt zu dem Problem, das Ihre Frage motiviert hat, Rustin: Es mag ja irrelevant sein, zu fragen, was vor dem „Es war einmal …“ in der Geschichte war (denn das ist genauso indeterminiert wie Sherlock Holmes‘ Schuhgröße). Aber es ist in der realen Welt in höchstem Grad relevant, ob es einen Anfang des Universums gegeben hat, und wenn ja, warum es zu diesem Anfang kam. Dies ist die große Frage der heutigen Kosmologie, und es ist eine Frage, die theologisch höchst bedeutungsvoll ist.

William Lane Craig

(Übers.: Dr. F. Lux)

- William Lane Craig