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#162 Atheismus versus Theismus - wie entscheidet man sich angesichts der Flut von Argumenten und Gegenargumenten?

February 15, 2019
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Informationsflut bei der Abwägung von Atheismus versus Theismus

Wenn man die Argumente des Atheismus gegen die des Theismus abwägt, kann man leicht überwältigt werden. Denn dass jeder heute alles Mögliche online veröffentlichen kann, hat zu einem Überfluss an Informationen und Meinungen zu beiden Seiten des Themas geführt. Hier begegnet Prof. Dr. Craig einer Frage von Mike, einem aufrichtig Suchenden, der die Beweise für und gegen die Existenz Gottes abwägen möchte, aber in einer endlosen Abfolge von Erwiderungen auf jedes Argument, das er findet, stecken zu bleiben scheint. Prof. Craig erklärt, dass der Glaube an Gott als berechtigterweise basale Überzeugung gelten kann und somit als wirkliches Wissen einzustufen ist. In der Beantwortung der Frage von Atheismus versus Theismus hat der Christ den Vorteil einer doppelten Rechtfertigung seines Glaubens, da er nicht nur gute Indizien und Argumente für die Existenz Gottes hat, sondern auch seine „Herzensgründe“.

Sehr geehrter Prof. Craig,

erlauben Sie mir zuerst zu sagen, wie sehr Ihre Arbeit mich inspiriert hat; Ihr klarer, methodischer Ansatz der Logik und Beweisführung ist bewundernswert. Erstaunlich oft wurde ich Zeuge, wie Ihre Debattengegner auf eine Vernebelung der Konversation zurückgriffen, indem sie von einem Punkt zum anderen sprangen oder einfach die Frage nicht beantworteten, die Sie oder die Zuhörer ihnen stellten! Würden solche Debatten doch nur über die führenden Fernseh- und Radiosender ausgestrahlt! Da ich in der Nähe von Oxford im Vereinigten Königreich lebe, beschämt es mich, dass Richard Dawkins nicht mit Ihnen debattieren will! Offenbar ist ihm sein Renommee wichtiger als die Suche nach Wahrheit; ich verstehe nicht, wie solche Männer ihre Mission rechtfertigen können, religiöse Menschen aus der „Selbsttäuschung“ ihres Glaubens zum Atheismus zu führen. Denn man sollte davon ausgehen, dass Wahrheit Wert hat, weil sie gut ist, aber was bedeutet gut in einem atheistischen Paradigma? Ich habe nie gehört, dass Dawkins sich in irgendeiner sinnvollen oder kohärenten Weise zu diesem Thema geäußert hätte; er täte gut daran, schließlich doch mit Ihnen zu debattieren!

Nach diesem Kommentar mag es Sie überraschen zu erfahren, dass ich selbst kein Christ bin. Meine Position ist die eines Agnostikers... nun, zunächst mal bin ich ein Mensch, aber um der Klarheit willen bleibe ich bei der zuvor genannten Bezeichnung. Ich bin in einer bibelgläubigen christlichen Familie aufgewachsen, aber ich behaupte keineswegs, Gott persönlich zu kennen oder auch nur sicher zu sein, dass er existiert. Ich hoffe, dass er existiert, aber ich halte etwas nicht einfach deshalb für wahr, weil ich es wahrhaben möchte... letzteres ist aber genauso wenig ein Grund, etwas für falsch zu halten!

Ich fürchte, ich habe keinerlei Ausbildung oder Hintergrund in Theologie, Wissenschaft oder ähnlichen Dingen; deshalb hoffe ich, dass ich mit meiner generellen Unkenntnis und meiner allgemeinen Frage nicht Ihre Zeit verschwende!

Es war tröstlich für mich festzustellen, dass die persönlichen Schlüsse, die ich während meiner Zeit an der Universität gezogen habe, schon seit Generationen von Autoren, Wissenschaftlern und Philosophen, und insbesondere von Ihnen und zum Beispiel von Sprechern/Autoren wie Dr. Ravi Zacharias, sehr ausführlich diskutiert worden sind. Dies wurde mir besonders deutlich bei der Erkenntnis, dass alle zeitlichen Freuden ohne eine neue Dimension geistlicher Beziehung (sofern diese überhaupt existiert) keinen wahren Frieden oder echte Befriedigung bieten können, und bei der Erkenntnis der objektiven Verzweiflung, die logisch unausweichlich ist, wenn man glaubt, dass es nichts gibt außer ‚Natur‘ (und ihr einen Namen wie etwa ‚Mutter‘ zu geben, löst das Problem auch nicht wirklich!).

Atheismus versus Theismus – Wie gehen wir mit der großen Fülle von Expertenmeinungen um?

Dies ist der notwendige Hintergrund für meine Frage, die nun relativ kurz scheinen wird. Jedes Mal, wenn ich (besonders als Laie) ein Argument für das christliche Lager lese, das mich überzeugt, lese ich ein Argument aus dem atheistischen Lager, das ihm widerspricht. Nun, die Argumente der anderen Seite sind (wie ich zugeben muss) weit weniger überzeugend und oft sogar äußerst fehlerhaft, aber sie sind dennoch ausreichend, um in meinen Gedanken Zweifel an der potentiellen Wahrheit (oder dem Irrtum) des Christentums zu wecken. Zumindest enthält jeder Artikel, in jedem Fachgebiet, eine Liste zahlreicher Autoren, von denen ich nie gehört habe, von Ideen, die mir nicht vertraut sind, und von technischen Fachgebieten, die ich unmöglich ausreichend kennen lernen könnte, selbst wenn ich tausend Jahre leben würde. Gewiss kann nicht einmal ein Gelehrter (wie zum Beispiel Sie) diese ganze Welt der Information erforschen und der größte Wissenschaftler, Historiker, Theologe (und was es sonst noch gibt)  der Welt werden, nur um zu sehen, ob das Christentum wahr genug ist, um von ganzem Herzen und ganzer Seele daran zu glauben! Nun weiß ich, dass Christen von der Notwendigkeit sprechen, „von neuem geboren“ zu werden, und wenn sie es nicht täten, würde ich die Behauptungen des Christentums nicht so hoffnungsvoll finden, wie ich es aus vielen Gründen tue, die ich an dieser Stelle nicht aufzuzählen brauche. Tatsächlich hat Blaise Pascal ausgesprochen, dass er (nach langem Ringen) feststellte, dass er den Weg zum wahren Glauben (ganz zu schweigen von einer Beziehung zu Gott) nicht auf rein rationalem Wege finden könnte, selbst wenn die Argumente für den Glauben an einen solchen Gott noch so vernünftig wären.

Meine Frage bezieht sich also auf die Suche nach Erkenntnis über die Glaubwürdigkeit der Behauptungen des Christentums. Ist eine solche Erkenntnis oder sind solche Beweise von irgendeinem Nutzen für einen Menschen wie mich, der am Rand der Verzweiflung (existentiell und objektiv gesprochen) steht und nach der persönlichen Beziehung zu Gott sucht, die die Bibel verspricht, wenn nur Gott (nach Aussage derselben Texte) eine solche Änderung herbeiführen kann, unabhängig davon, welches Buch ich zufällig gerade lese oder nicht lese. Dies ist keine intellektuelle Neugier; dies ist von höchst praktischer Bedeutung für mich und – ich bin sicher – für viele tausend andere Menschen. Es kommt mir vor wie ein grandioses Dilemma, und nachdem ich seit vielen Jahren mit Predigern und (anderen) Christen gesprochen habe, kann ich keine befriedigende Antwort auf die Frage finden, abgesehen von ‚Gott ist in Ihrem Leben am Werk‘ und (schlimmer) ‚Es ist ein Geheimnis‘.

Wenn eine Beziehung zu Gott auf einem intellektuellen Weg initiiert werden kann, der zu einer logischen Gewissheit über die Wahrheit der Bibel führt, dann weiß ich, dass ich eine solche Beziehung nie erreichen werde, und in diesem Sinn ist meine einzige Gewissheit die Ungewissheit! Ich kann nicht einmal sicher sein, dass der Stuhl, auf dem ich gerade sitze, wirklich hier ist – nicht WIRKLICH sicher... Vielleicht ist das der Punkt, an dem ‚Glaube‘ ins Spiel kommt, aber wenn Glaube ins Spiel kommt, dann hat der Glaube Beweise und Belege verdrängt – und so beginnt der Kreislauf der Verwirrung von vorn!

Denjenigen Hinweis, der einer Lösung für dieses Geheimnis am ehesten nahekommt, fand ich (wiederum) in den Schriften von Pascal, der in seinen „Pensées“ sagt, dass der Glaube ÜBER der Vernunft und nicht im Widerspruch zu ihr steht; aber das verstehe ich nicht, zumindest nicht mit irgendeiner Gewissheit (ich erinnere an den Stuhl) und nicht mit irgendeinem praktischen Nutzen im Blick darauf, ob ich tatsächlich je wissen werde, ob Gott existiert, und ob ich ihm – falls er existiert – je wirklich begegnen werde.

Mike

United States

Prof. Craigs Antwort


A

Atheismus versus Theismus

Danke für Ihren interessanten Brief, Mike! Ich vermute, dass der Agnostizismus vieler Studenten heute ein Ergebnis der von Ihnen beschriebenen Informationsflut ist, die durch die Fülle an Informationen möglich wurde, die über das weltweite Internet so leicht zugänglich sind. Für jedes Argument in der Debatte zwischen Atheismus und Theismus scheint es ein Gegenargument zu geben, und dann ein Gegenargument zu diesem Gegenargument, und so weiter, sodass viele Studenten, wie ich vermute, einfach verzweifelt mit den Schultern zucken und den Schluss ziehen, dass niemand – jedenfalls nicht sie – jemals die Wahrheit zu irgendeiner dieser Fragen wissen kann. Da vergisst man diese unlösbaren Fragen besser gleich und schöpft einfach das Leben in vollen Zügen aus! Natürlich bleibt der nagende Zweifel, dass man etwas wirklich Wichtiges versäumen könnte – und wer weiß, was nach dem Tod passiert?

Mir scheint, Sie haben Recht, wenn Sie denken, dass Pascal die Antwort auf dieses sehr reale Problem hat. Pascal sprach von „Gründen des Herzens“, die wir unabhängig von Beweisen und Argumenten haben können. Die Proposition, dass Gott existiert, ist eine solche Wahrheit. Pascal wurde allgemein in dem Sinne missverstanden, als berufe er sich auf Sentimentalität oder nicht-kognitive Gefühle, um den Glauben an Gott zu rechtfertigen. Aber wenn man Pascal genauer liest, zeigt sich, dass dies nicht der Fall ist. Pascal war ein Mathematiker und sogar der Gründer der Wahrscheinlichkeitstheorie und vertrat die Auffassung, dass zu den Gründen des Herzens auch mathematische Wahrheiten gehören. Und dass 2+2=4, wissen wir natürlich nicht durch sentimentale Gefühle!

Atheismus versus Theismus – Die Basalität des Glaubens an Gott

Pascal spricht vielmehr von etwas, das zeitgenössische Philosophen als „berechtigterweise basale Überzeugung“[1] bezeichnen. Für Pascal sind Wahrheiten der Logik und der Mathematik nicht von anderen Wahrheiten abgeleitet, sondern werden von uns in einem wirklich basalen Sinn erfasst, als Teil der fundamentalen Überzeugungen einer Person. Und seine Behauptung war, dass der Glaube an die Existenz Gottes ebenfalls eine berechtigterweise basale Überzeugung ist.

In der zeitgenössischen Szene wurde diese religiöse Epistemologie von Alvin Plantinga verteidigt und ist als reformierte Epistemologie bekannt. Ich habe diesen Ansatz in meinem Kapitel über religiöse Epistemologie in Philosophical Foundations for a Christian Worldview   erörtert. Ich betrachte den Glauben an Gott und die großen Wahrheiten des Evangeliums als berechtigterweise basale Überzeugungen, die auf dem Zeugnis des Heiligen Geistes beruhen. Diese Überzeugungen gehören, wie Plantinga betont, zu dem, was uns die Vernunft sagt, obwohl sie keinen diskursiven Charakter haben, also nicht auf Schlüssen beruhen.

Wenn dies richtig ist, dann sind wir nicht von den Unbeständigkeiten der Beweise und Argumente für die Kenntnis der großen Wahrheiten des Evangeliums abhängig. So lähmt uns die Informationsflut nicht, die uns zu konfrontieren scheint. Gott hat ein unabhängiges Mittel bereitgestellt, um Ihn zu erkennen.

Atheismus versus Theismus – Die zusätzliche Rechtfertigung des Glaubens durch die Argumente für den Glauben an Gott

Die Frage, in der ich (ebenso wie Plantinga) mit Pascal getrennte Wege gehe, ist die Stichhaltigkeit und Nützlichkeit der Argumente der natürlichen Theologie. Die Tatsache, dass der Glaube an Gott eine berechtigterweise basale Überzeugung ist, zeigt zwar, dass Argumente für Gott nicht notwendig sind, um zu wissen, dass Gott existiert, aber sie bedeutet nicht, dass solche Argumente nicht ausreichend sind, um zu wissen, dass Gott existiert. Wer nicht nur das Zeugnis des Heiligen Geistes besitzt, sondern auch gute Argumente für die Existenz Gottes hat, der hat also eine doppelte Rechtfertigung, weil er seine Rechtfertigung für seinen theistischen Glauben aus zwei verschiedenen Quellen kommt. Gott kann Sie zwar auch ohne irgendwelche Bücher mit Argumenten für das Christentum zu einem rationalen Glauben bringen, aber Er kann auch beschließen, Sie durch das Buch, das sie gerade lesen, zum Glauben zu bringen. Argumente und Beweise können für manche Personen die Mittel sein, durch die sie zu einer Erkenntnis Gottes gelangen; sie sind aber nicht immer zwingend erforderlich.

Um also Ihre Frage zu beantworten: Solche Beweise können für Sie eine große Hilfe in Ihrer Suche nach Gott sein. Ich würde Ihnen vorschlagen, ein einzelnes Argument für Gottes Existenz zu nehmen und sich mit den Erwiderungen und Gegen-Erwiderungen vertraut zu machen (Sie werden feststellen, dass es eigentlich nicht allzu viele sind, die nur endlos wiederholt werden), um sich dann eine eigene Meinung darüber zu bilden, ob die Prämissen des ursprünglichen Arguments eher plausibel als nicht plausibel sind. Meiden Sie aber die fehlerhafte Epistemologie des Evidentialismus, indem Sie meinen, dass alle wirklich informativen Wahrheiten inferentiell erkannt werden.

Den Wert der natürlichen Theologie zu bestätigen bedeutet nicht, dass Sie sich auf einen „intellektuellen Weg“ begeben, „der zu einer logischen Gewissheit über die Wahrheit der Bibel führt.“ Woher haben Sie diese Vorstellung? Schon wenn wir zeigen können, dass Gottes Existenz eher wahrscheinlich als nicht wahrscheinlich ist, reicht dies aus, um den Glauben an Gott rational zu begründen. Wie Sie selbst feststellen, wird man, wenn man Gewissheit verlangt, ein Skeptiker, der sogar an dem Stuhl zweifelt, auf dem er sitzt!

Atheismus versus Theismus – Die Unzulänglichkeit des Evidentialismus

Sie scheinen zu denken, dass einem nur noch blinder Glaube übrigbleibt, wenn man nicht aus den Argumenten alleine eine Gewissheit für den Glauben erlangen kann. Doch warum denken Sie das? Berechtigterweise basale Überzeugungen sind auch ein Ergebnis von Vernunfttätigkeit; es handelt sich aber um nicht diskursiv bzw. inferentiell erlangte Erkenntnisse. Offenbar haben Sie den Evidentialismus kritiklos übernommen. Aber dann sollten Sie den Evidentialismus auch auf sich selber anwenden und auch hier skeptisch sein, da der Evidentialismus nicht durch Beweise und Argumente bewiesen werden kann! Der Evidentialismus widerlegt sich also selbst.

Der wesentliche Punkt ist, dass ein liebender Gott uns nicht damit allein lassen würde, durch unsere eigene Klugheit und unseren Einfallsreichtum herauszufinden, ob Er existiert oder nicht; Er würde vielmehr einen Weg zu Seiner Erkenntnis bereitstellen, der allen Personen zugänglich ist, die nach Ihm suchen. Er hat dies durch das Zeugnis Seines Heiligen Geistes getan. Das bedeutet nicht, dass es nicht zusätzlich auch gute Argumente für Gottes Existenz und Beweise für Seine Selbstoffenbarung in Jesus gibt. Doch da wir nicht ausschließlich von solchen Argumenten und Beweisen abhängig sind, wenn wir zwischen Atheismus und Theismus abwägen, brauchen wir uns durch die Flut an Argumenten und Gegenargumenten über Seine Existenz nicht einschüchtern zu lassen oder zum Agnostizismus bringen zu lassen. Letztlich gründet unsere Erkenntnis Gottes in dem persönlichen Selbstzeugnis Gottes.

(Übers.: M. Wilczek)

Link to the original article in English: http://www.reasonablefaith.org/atheism-versus-theism

 

[1] Engl. "properly basic belief". Eine basale Überzeugung ist eine, die man nicht indirekt (diskursiv) durch Schlüsse erlangt, sondern die man "direkt" erwirbt. Z.B. kann man direkt zu dem Schluss kommen "vor mir steht ein Tisch". Man braucht keine stützenden Argumente, um diese Wahrheit direkt einsehen zu können. Wenn man "berechtigt" ist, eine Überzeugung als basal anzusehen, heißt sie "berechtigterweise basale Überzeugung". (Anm. d. Übers.)

- William Lane Craig