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#583 Opfer und Sühne

March 03, 2019
F

Sehr geehrter Prof. Craig,

mein Name ist Luca, ich komme aus Belgien (ich habe Ihnen schon vor ein paar Wochen eine Frage zur Kosmologie geschickt und danke Ihnen für Ihre Antwort). Diesmal bezieht sich meine Frage auf das Thema Reinheit und Unreinheit, wie wir es beispielsweise im Dritten Buch Moses vorfinden. Mir fällt es wirklich sehr schwer, dieses Konzept zu verstehen.

Reinigung: Wie kann es sein, dass das, was einen unrein macht (Blut, Leichen usw.), gleichzeitig das ist, was einen reinigt (Blut, Opfer)?

Sühnung: Warum sollte man ein Sühnopfer bringen, wenn Unreinheit keine Sünde war?

Zudem kann etwas oder jemand Unreines anscheinend nicht in der Gegenwart Gottes sein, ohne dass das ernsthafte Konsequenzen hat => den Tod der unreinen Person, der die Wohnung Gottes verunreinigt hat. (3. Mose 15,31)

Vor diesem Hintergrund verstehe ich auch nicht, wie das mit Jesu Opfer funktioniert hat! Ja, er war schon bei seiner Geburt unrein und hatte dann Kontakt zu kranken Menschen und sogar Leichen (Lazarus), aber die Bibel sagt, dass Gott in Fülle in ihm wohnte … War Christus nicht rituell unrein, sodass er Sühnung brauchte? Aber Sühnung wodurch? Durch Tieropfer? Ich dachte, die wären nur ein Bild für das Werk Christi – wie können sie also für den Messias sühnen? Außerdem: Wenn Jesus physisch unrein war, sollte sein Opfer dann nicht von Gott abgelehnt werden?

Ich weiß nicht, ob meine Fragen klar genug sind, dass Sie meine Verständnisschwierigkeiten verstehen. Wenn dem nicht so ist, lassen Sie es mich wissen. Ich freue mich über jegliche Hilfestellung und danke Ihnen, dass Sie so ein großartiges Vorbild für uns Christen sind.

Luca

Belgien

Belgium

Prof. Craigs Antwort


A

Hätte ich nicht bis vor kurzem Christi Sühnung studiert, hätte mich Ihre Frage, Luca, kaum interessiert. Und ich bitte diejenigen Leser, die das so ähnlich empfinden, um etwas Geduld, während ich auf diese doch sehr interessante- Situation eingehe.

2. „Wie kann es sein, dass das, was einen unrein macht (Blut, Leichen usw.), gleichzeitig das ist, was einen reinigt (Blut, Opfer)?“ Dies ist ein zentrales Paradoxon im Opfersystem des Alten Testaments. Kommt eine Person in Kontakt mit einer Leiche oder Blut, wird die Person rituell unrein. Somit scheint es so, als verunreinige die Opferhandlung den Opfernden und den Priester, anstatt sie zu reinigen. Ich habe einmal sogar einen Alttestamentler gehört, der diese Erkenntnis tatsächlich teilt und daraus ableitet, dass die Leute sich vom Opfern reinigen müssen, was verrückt erscheint.

Ich denke, das, was das Opfer für die Israeliten zur Ausnahme von der Regel machte, das Blut des Opfertieres war, das dessen Leben repräsentierte, welches nicht unrein war und Gott dargebracht wurde. „Denn das Leben des Fleisches ist im Blut, und ich habe es euch auf den Altar gegeben, um Sühnung zu erwirken für eure Seelen. Denn das Blut ist es, das Sühnung erwirkt für die Seele“ (3. Mose 17,11, Schlachter 2000). Es ist das Leben des Tieres, das Gott dargebracht wird. Durch das Ritual des Handauflegens, das jedem Tieropfer vorausging, identifiziert sich der Opfernde symbolisch mit dem Tier, das das Schicksal erleidet, das der Opfernde verdient. Das Leben des Tieres wird anstelle des Lebens des Opfernden gegeben. (Eine Warnung: Diejenigen, die diese Art von a-priori-Argumenten forcieren, arbeiten auf Basis der keineswegs trivialen Annahme, dass diese alten rituellen Praktiken durch und durch logisch konsistent waren.)

2. „Warum sollte man ein Sühnopfer bringen, wenn Unreinheit keine Sünde war?“ Es stimmt zwar, wie Sie sagen, dass rituelle Unreinheit nicht dasselbe wie Sünde ist, doch die Opfer wurden dargebracht, um sowohl rituelle Unreinheit als auch Sünde zu entfernen. Das Judentum des Altertums war tief geprägt vom Unterschied zwischen Reinem und Unreinem. Denken Sie nur mal an die aufwändigen Speisegesetze! Diese Unterscheidung durchdrang das ganze Leben und diente meiner Meinung nach dazu, Gottes Heiligkeit fest im Hirn der Menschen zu verankern. Etwas, das moralisch neutral und keine Sünde war, wie beispielsweise Menstruation, konnte einen Menschen rituell unrein machen, sodass er (oder sie) der Reinigung durch Opfer bedurfte.

 3. „War Christus nicht rituell unrein, sodass er auch Sühnung brauchte?“ Es war genau diese Überzeugung, die die jüdischen Führer gegen Jesus aufbrachte. Dass Jesus mit Verbrechern und unreinen Menschen Tischgemeinschaft hatte und dass er sich mit Prostituierten und Kollaborateuren der Römer abgab, war ein enormer Affront gegenüber den jüdischen Anführern. Und man kann auch verstehen, warum das nach ihren Maßstäben so war. Doch nach Jesu Auffassung wurde er durch den Kontakt mit solchen Leuten nicht verunreinigt, sondern – ganz im Gegenteil – er brachte ihnen Gottes Vergebung und Reinigung. Theologisch gesprochen übertrumpfte Jesu Göttlichkeit die Sünde und Unreinheit und trieb sie aus. Dies ist eine wunderbare Demonstration seiner Göttlichkeit.

Dementsprechend gelten Ihre restlichen Bedenken nicht mehr. Christus, selbst nicht verunreinigt, brauchte kein Opfer zur Sühnung von Sünde oder Unreinheit zu bringen.

(Übers.: J. Booker)

Link to the original article in English: https://www.reasonablefaith.org/writings/question-answer/sacrifice-and-atonement

- William Lane Craig