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#689 Neues Buch über das Sühneopfer Christi

October 02, 2020
F

Sehr geehrter Prof. Craig,

ich freue mich schon auf Ihr neues Buch über die Versöhnungslehre, das bei Baylor University Press erscheinen soll. Ich glaube, mich daran erinnern zu können, wie Sie sagten, dass Sie für dieses Buch Ihre Argumentation verbessern konnten. Können Sie mir verraten, was an Ihrem Buch neu sein wird? Werden Sie ausführlich auf die Kritik der stellvertretenden Sühne durch Stump[1] und auf Oliver Crisps[2] „realistisches“ Verständnis dieser Lehre eingehen? Mich würde sehr interessieren, wie Sie über Crisps Behauptung denken, dass Schuld nicht von einer Person auf eine andere übertragbar ist, und über seine Strategie zur Umschiffung dieser Klippe. Um das von ihm selbst vorgebrachte Problem zu umgehen, entwickelt er ja eine metaphysische Antwort, die eine ontologische Einheit zwischen Menschen postuliert.

Tim


[1] Eleonore Stump, eine amerikanische katholische Philosophin und Philosophiehistorikerin. (Anm. d. Übers.)

[2] Oliver D. Crisp ist ein britischer Theologe, der derzeit an der University of St. Andrews lehrt. (Anm. d. Übers.)

United Kingdom

Prof. Craigs Antwort


A

Mein neues Buch Atonement and the Death of Christ, das bei Baylor University Press erscheinen wird, ist erheblich ausführlicher als mein kleines Buch The Atonement (Cambridge University Press, 2018), das eine Art Readers Digest-Version meines neuen Buches ist. In allen drei Themenbereichen – biblischer Befund, Dogmengeschichte und philosophische Reflexion – gehe ich sehr viel mehr ins Detail, sodass das neue Buch drei Mal so dick ist wie das alte.

Ich gehe in der Tat detailliert auf Eleonore Stumps engagierte Kritik an den Stellvertretende-Sühne-Lehren ein. In meiner Einleitung antworte ich auf ihre Behauptung, das Modell der stellvertretenden Sühne könne die Versöhnung nicht wirklich erklären, und kritisiere ihre einseitige Konzentration auf die Sühne im etymologischen Sinne des Wortes zulasten der Bedeutung im Hebräischen. In Kapitel 9 gebe ich eine Erwiderung auf das von ihr behauptete „zentrale und unlösbare Problem“ aller Lehren von der stellvertretenden Sühne, nämlich dass eine solche Lehre unvereinbar mit Gottes Liebe sei. In Kapitel 10 antworte ich auf ihren Einwand, die stellvertretende Sühne sei ungerecht, und in Kapitel 11 auf ihre Einwände, dass Stellvertretende-Sühne-Lehren unvereinbar mit Gottes Gnade seien, dass Christi Tod der göttlichen Gerechtigkeit mitnichten Genüge getan habe und dass die Vorstellung von der stellvertretenden Sühne den Universalismus impliziere.

Ich gehe auch kurz auf die Arbeit von Oliver Crisp ein. Ich verteidige seine Bezeichnung der göttlichen Vergebung als juristischer Begnadigung gegen die Einwände von Stump, verneine jedoch seine Darstellung der stellvertretenden Sühne als „forensischer Fiktion“ und versuche, zu erklären, wie das Instrument der juristischen Fiktionen in Stellvertretende-Sühne-Lehren, die von einer stellvertretenden Zurechnung von Sünden ausgehen, richtig eingesetzt werden kann. Ich weise sein sogenanntes „realistisches“ Verständnis der Sühne entschieden als unplausibel und letztlich vergeblich zurück, aber ich glaube, er hat diesen Ansatz mittlerweile selber aufgegeben. Dieser Ansatz erfordert die Postulierung mereologischer[1] Verschmelzungen wie „gefallene Menschheit“ und „erlöste Menschheit“ als Basis für die Erbsünde und die Erlösung durch Christus. Eine solche Postulierung scheint mir ein Prinzip scheinbar unbegrenzter mereologischer Zusammensetzungen vorauszusetzen, nach welchem zwei beliebige Objekte als Teile eines Objekts betrachtet werden können. Wie sonst soll man es begründen, dass Individuen buchstäblich als Teile (nicht Glieder!) eines Superobjekts wie der „gefallenen Menschheit“ betrachtet werden sollten? Aber wenn das so ist, wie können sie dann durch ihre Erlösung ihr Teil-Sein an diesem Objekt verlieren und stattdessen Teile eines anderen Superobjekts (der „erlösten Menschheit“) werden? Aber mehr noch: Die Betrachtung von Personen als Teilen eines transzeitlichen Super-Objektes scheint mir eine zeitlose, statische Theorie der Zeit vorauszusetzen, nach der Objekte vierdimensionale Entitäten in Zeit und Raum sind – eine Sicht, die unvereinbar ist mit der Idee einer göttlichen Bestrafung oder Belohnung von dreidimensionalen Person-„Scheiben“.

Crisps Glaube, dass „Schuld nicht von einer Person auf eine andere übertragbar ist“, hängt mit seinem Verständnis von Schuld als der Tatsache bzw. Eigenschaft, ein Verbrechen begangen zu haben, zusammen. Da man an der Vergangenheit nichts ändern kann, ist nach dieser Sicht jemand, der etwas verbrochen hat, anschließend für alle Zeiten schuldig. Seine Schuld kann weder übertragen noch ausgelöscht werden, noch nicht einmal durch Gott. Eine der wichtigsten philosophischen Einsichten meines neuen Buches ist, dass dieses weitverbreitete Verständnis von Schuld falsch ist. Es ist unvereinbar mit dem üblichen Verständnis der ausgleichenden Gerechtigkeit, denn nach diesem Verständnis bleibt jemand, der beispielsweise seine Freiheitsstrafe abgesessen hat oder begnadigt worden ist, trotzdem schuldig. Aber da nach der Lehre von der ausgleichenden Gerechtigkeit der Schuldige Strafe verdient, ist er praktisch zur Hölle verurteilt, da seine Schuld ja nie beseitigt werden kann. Ich schlage vor, stattdessen Schuld als ein „Strafe verdient haben“ zu definieren, also als vorübergehende Eigenschaft, die durch eine Begnadigung oder eine Befriedigung der Gerechtigkeit aufgehoben werden kann.

Sie werden also einiges von Interesse finden in meinem neuen Buch!

(Übers.: Dr. F. Lux)

Link to the original article in English: https://reasonablefaith.org/writings/question-answer/new-book-on-the-atonement/

 

[1] Die Mereologie ist eine formale Theorie über die Beziehung zwischen Teil und Ganzem. (Anm. d. Übers.)

- William Lane Craig