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#615 Neo-Apollinarianismus und Geist-Körper-Dualismus

April 28, 2019
F

Sehr geehrter Prof. Craig,

ich habe mir Ihre Defenders-Serie über die Inkarnation Christi angehört – eine wunderbares Studium für die Festzeit. Sie schlagen ein Modell der Inkarnation vor, in welchem der inkarnierte Christus allwissend ist und gleichzeitig ein normales, begrenztes menschliches Wissen hat. Sie behaupten, dass Christus das göttliche Allwissen gleichsam unterbewusst gehabt haben könne, während er in seinem Bewusstsein ein normales menschliches Wissen hatte (Defenders Podcasts, series 3, section 7, part 7).

Erstens: Wie könnte die unendliche Datenmenge eines allwissenden Geistes in einem endlichen menschlichen Gehirn „gespeichert“ werden? Aber wenn sie nicht in Jesu menschlichem Gehirn „gespeichert“ war, wie war sie dann gespeichert? Legt uns dieses Modell der Inkarnation implizit auf eine Dualität der Substanzen fest (also die Vorstellung, dass der menschliche Geist eine separate metaphysische bzw. spirituelle Komponente hat)? Aber würden wir es damit den skeptischen Nichtgläubigen nicht zu schwer machen? Um eine solide theologische Sicht von Christus zu haben, müssten sie kontroverse neurowissenschaftliche Positionen unterschreiben.

Und zweitens: Sie sagen, dass es möglicherweise Leute gibt, die behaupten, dass Jesus keinen Zugang zu diesem unterbewussten Wissen hatte. Ist das dann nicht dasselbe wie die Lehre, dass Jesus sich seiner Allwissenheit entledigte (also die kenotische Ansicht, der allgemein als Irrlehre verworfen wird)? Mir scheint, dass das dasselbe wäre, als wenn der Logos sich seiner Allwissenheit begeben würde.

Danke für Ihre wunderbare Arbeit,

Pete

United Kingdom

Prof. Craigs Antwort


A

Danke für Ihre Fragen, Pete!

Erstens: Es ist unmöglich, unendliches Wissen im menschlichen Gehirn zu speichern. Dieses Wissen ist somit im Besitz des göttlichen Logos, der zweiten Person der Trinität, die als Jesus von Nazareth Fleisch geworden ist. Und jawohl: Dieses Modell legt uns auf den Geist-Körper-Dualismus fest. Das ist ein Grundsatz des Modells, einmal ganz abgesehen von dem Problem der Allwissenheit. Die Konzeption ist die, dass der immaterielle, göttliche Logos die Seele Jesu von Nazareth ist, aber dass nur ein winziger Teil des Wissens dieses Logos in der sogenannten Phase der „Niedrigkeit“ Christi (also seines Lebens auf dieser Erde) in sein Bewusstsein trat. Von A bis Z setzt dieses Modell also einen Dualismus voraus.

Nein, damit machen wir es den skeptischen Nichtgläubigen nicht zu schwer, denn wir bieten dieses Modell ja lediglich als eine mögliche Erklärung dafür an, wie Christus gleichzeitig wahrer Gott und wahrer Mensch sein konnte. Die Beweislast, zu zeigen, dass dieser Vorschlag nicht praktikabel ist, liegt bei dem Skeptiker – viel Glück! Im Übrigen sind wir durch den Theismus ja schon verpflichtet, an einen körperlosen göttlichen Geist zu glauben. Wenn der Nichtgläubige bereit ist, dies als Möglichkeit zu betrachten, dürfte der Schritt zu der Aussage, dass es auch Geister mit einem Körper geben kann, nicht zu groß sein. Eine gute Widerlegung der Einwände gegen den Geist-Körper-Dualismus liefert mein Kollege J.P. Moreland in: J.P. Moreland, W.L. Craig, Philosophical Foundations for a Christian Worldview (Downers Grove, IL: IVP, 2nd edition, 2017).

Zweitens: Die Sicht, dass Christus in seinem Bewusstsein keinen Zugang zu seinem göttlichen Unterbewussten hatte, ist mitnichten das Gleiche wie der Kenotizismus, denn dieser verneint, dass es ein göttliches Unterbewusstes gibt! Die kenotischen Theologen sagen, dass der Logos, um inkarniert werden zu können, seine Allwissenheit preisgab; Christus hatte also schlicht kein übermenschliches Wissen. In meinem neo-apollinarianistischen Modell dagegen hat Christus ein solches Wissen unterbewusst, und das göttliche Unterbewusste hat die Macht, dieses Wissen ins Bewusstsein treten zu lassen, auch wenn Jesus in seinem (menschlichen) Bewusstsein das nicht möglich war.

 (Übers.: Dr. F. Lux)

- William Lane Craig