English Site
back
05 / 06

#688 Die Mathematik und die Naturgesetze

October 02, 2020
F

In der Debatte über das mathematische Argument für die Existenz Gottes in „Capturing Christianity“ richtete Dr. Oppy nach einer Stunde und 12 Minuten die folgende Frage an Sie:

Könnte Gott aus freien Stücken beschlossen haben, eine physische Welt zu schaffen, in der es nicht der Fall ist, dass mathematische Theorien auf die physische Welt anwendbar sind, weil die Struktur der physischen Welt eine Instanziierung von durch diese mathematischen Theorien beschriebenen mathematischen Strukturen ist? [Hätte Gott] beschließen können, eine Welt zu schaffen, in der dies nicht der Fall war?

Wir haben hier zwei Optionen, nicht wahr? Wenn die Antwort „Nein“ ist, dann scheint mir, dass das, was Sie letztlich sagen müssen, darauf hinausläuft, dass es notwendig ist, dass es eine physische Welt gibt und dass die mathematischen Theorien auf sie anwendbar sind, sodass Sie letztlich den Naturalisten Recht geben. Das wäre ja die Erklärung.

Ist die Antwort dagegen „Ja“, dann scheint es doch lediglich eine Kontingenz zu sein, dass die mathematischen Theorien aus dem angegebenen Grund auf die physische Welt Anwendung finden, denn es ist doch eine nackte Kontingenz, dass Gott beschloss, diese Welt zu schaffen und nicht irgendeine andere, die er stattdessen hätte schaffen können; wir haben doch keine Erklärung, oder? Wenn wir zu dem Thema „freie Wahl“ kommen und Sie denken: „Warum A, und nicht B?“, gibt es letztlich keine Erklärung dafür, warum wir A und nicht B haben.

Es sieht also ganz danach aus, dass Sie entweder das Prinzip der Notwendigkeit anerkennen müssen oder zu dem Schluss kommen: „Das ist eine nackte Kontingenz“, was ja gerade das Problem war; da lag der Stein des Anstoßes.

Sie erwiderten darauf, dass Sie kein Problem damit haben, dass Gott aus freien Stücken Entscheidungen getroffen hat, die letztlich unerklärlich sind, und dass Ihre Theorie immer noch eine größere explanative Tiefe hat als die von Oppy.

Als Erstes habe ich nicht so sehr eine Frage, sondern eine Bitte: Könnten Sie Ihre Erwiderung auf Oppys erste Behauptung, dass es „ganz danach aus[sieht], dass Sie entweder das Prinzip der Notwendigkeit anerkennen müssen oder zu dem Schluss kommen: ‚Das ist eine nackte Kontingenz‘, was ja gerade das Problem war“, etwas erläutern? Etwas später fragte Oppy Sie, ob Sie bereit seien, in Ihrer Formulierung des mathematischen Arguments den Ausdruck „glücklicher Zufall“ durch „nackte Kontingenz“ zu ersetzen. Diese Frage kam zeitlich 1 Stunde und gut 29 Minuten nach Beginn der Debatte. Oppy stellte weiter fest, dass der Streitpunkt zwischen ihm und Ihnen in der ersten Prämisse liege. Er findet, dass die Anwendbarkeit der Mathematik auf die physische Welt eine nackte Tatsache ist, und nicht eine nackte Kontingenz.

Aber jetzt zweitens eine richtige Frage: Oppy behauptet also, dass der Theist auch vor dem Problem steht: Nackte Tatsache oder nackte Kontingenz? Könnte man den gleichen Einwand auch gegen das kalām-kosmologische Argument vorbringen oder gegen das Argument der Feinabstimmung? Danke, dass Sie sich Zeit dafür nehmen!

Weston

United States

Prof. Craigs Antwort


A

Danke für Ihre tiefschürfende Frage, Weston! In dem von Ihnen zitierten Abschnitt konfrontiert Oppy den Theisten mit einem scheinbaren Dilemma: War es notwendig, dass Gott diese Welt erschuf, oder hätte er stattdessen eine Welt erschaffen können, in welcher die physischen Phänomene anhand anderer mathematischer Gesetze beschrieben werden?

Die Antwort auf diese Frage ist so offensichtlich, dass die Frage stellen sie beantworten heißt. Da der Theist glaubt, dass Gott ein persönlicher Akteur ist, der einen freien Willen hat, hätte Gott selbstverständlich eine Welt erschaffen können, in der andere Naturgesetze gelten als die unseren, wodurch die physischen Phänomene eine andere mathematische Beschreibung hätten. Er hätte sich z. B. für eine Welt entscheiden können, deren physische Phänomene anhand der Newton’schen Physik beschreibbar sind und nicht anhand der relativistischen oder Quantenphysik.

Die einzige Frage ist mithin, wo hier das Problem liegt. Oppy behauptet, dass wir in diesem Fall mit dem Erklären nicht weitergekommen, sondern wieder da gelandet sind, wo wir angefangen hatten: bei der nackten Kontingenz. Aber da liegt Oppy falsch. In der Weltsicht des Theismus ist die Anwendbarkeit der Mathematik auf die physische Welt eine Kontingenz, aber keine nackte Kontingenz (also kein „glücklicher Zufall“), sondern sie findet eine Erklärung in der freien Entscheidung eines transzendenten, persönlichen Schöpfers. Was nackt kontingent ist (oder sein könnte), ist allein die Tatsache der freien Entscheidung Gottes für A (und nicht für Nicht-A). Aber die Anwendbarkeit der Mathematik auf die physische Welt findet im Theismus eine Erklärung, die der Naturalismus nicht liefern kann. Der Theismus hat somit eine größere explanative Tiefe als der Naturalismus, was eine wichtige theoretische Tugend ist.

Das gleiche Thema taucht auch in meiner Debatte mit Eric Wielenberg über die beste Erklärung objektiver moralischer Werte und Pflichten auf. Ähnlich wie Oppy, behauptet Wielenberg, dass moralische Werte nackte Notwendigkeiten sind und dass der Theismus früher oder später bei einer nackten ultimativen Erklärung landen muss. Was ich in dieser Debatte auf Morriston und Huemer erwidert habe, könnte vielleicht auch Ihnen helfen:

Meiner Herangehensweise in dieser Debatte liegt die tiefe Überzeugung zugrunde, dass explanative Tiefe nicht nur in der Physik und Mathematik, sondern auch in der Ethik eine theoretische Tugend ist. Eine Theorie, die eine Erklärung bzw. Begründung ethischer Prinzipien bietet, ist höher zu bewerten als eine Theorie, die nach dem sogenannten „Einkaufslistenprinzip“ vorgeht, wo man sich die Prinzipien aus dem Regal holt, die man gerade braucht, ohne eine Erklärung zu versuchen. Ich halte es mit dem, was Shelly Kagan gesagt hat:

„Eine adäquate Rechtfertigung eines Ensembles von Prinzipien erfordert eine Erklärung dieser Prinzipien – eine Erklärung, warum ausgerechnet diese Ziele, Restriktionen usw. beachtet werden sollten, und nicht andere. Ohne eine solche Erklärung bleibt an den Prinzipien jener Makel der Arbitrarität hängen, der uns überhaupt dazu gebracht hat, über unsere . . . Ad hoc-Einkaufslisten hinauszugehen. . . . Solange wir keine kohärente Erklärung unserer Prinzipien beibringen können (bzw. nicht zeigen können, dass sie keiner weiteren Rechtfertigung bedürfen), können wir sie nicht als gerechtfertigt betrachten und haben möglicherweise guten Grund dazu, sie zu verwerfen. . . . Diese Notwendigkeit der Erklärung in der Theorie der Moral kann gar nicht genug betont werden.“[1]

Meine Behauptung ist genau die, dass die Theorie des göttlichen Moralgebots (Divine Command Theory) dem Normativen Relativismus ohne Gott (Godless Normative Relativism) explanativ überlegen und somit die bessere Theorie ist.

Morriston und Huemer geben sich mit einer Theorie der Ethik zufrieden, die keine explanative Tiefe hat, weil das Erklären ja irgendwo aufhören müsse. Dies ist schön und gut, aber gibt uns, wie Kagan betont, „keinen Freibrief dafür, das Erklären auf einer oberflächlichen Ebene einzustellen.“[2] Ähnliches gilt für die theoretische Mathematik.[3] Wie die Mathematikphilosophin Penelope Maddy erklärt, ist in der Mathematik explanative Tiefe eine der wichtigsten theoretischen Tugenden.[4] Trotz der allgemeinen logischen Notwendigkeit (und Selbstevidenz) mathematischer Wahrheiten wie 1>3, 2+2=4, 6-1=5 usw. würden die Mathematiker sich niemals mit einer Theorie zufriedengeben, die einfach ein unendliches Nebeneinander solcher Wahrheiten produziert. Was sie suchen, ist eine Theorie, die es erlaubt, solche Wahrheiten aus explanativ übergeordneten Axiomen abzuleiten – z. B. aus den Peano-Axiomen oder (besser noch) mengentheoretischen Axiomen, wie sie z. B. der axiomatischen Mengenlehre ZFC zugrunde liegen. Die besondere Leistung der axiomatischen Mengenlehre liegt gerade in ihrer erstaunlichen Fähigkeit, eine Basis für die Ableitung der gesamten klassischen Mathematik aus einer Handvoll Axiomen bereitzustellen. Der Grund für die hohe Wertschätzung der Mengenlehre ist ihre erstaunliche explanative Tiefe. . . . Die Mathematiker würden sich kaputtlachen über die Vorstellung, dass eine mathematische Theorie, die unendlich viele arithmetische Wahrheiten ohne jede explanative Tiefe postuliert, eine ernsthafte Konkurrentin der Peano- Arithmetik oder der Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre sein könne. Huemers Berufung auf die Arithmetik, um eine Theorie der Ethik ohne explanative Tiefe zu rechtfertigen, ist mithin ein Schuss, der nach hinten losgeht.

Doch der Theismus bietet nicht nur eine größere explanative Tiefe bei der Erklärung der Anwendung der Mathematik auf physische Phänomene, sondern die ultimative Erklärung des Theisten ist (wie auch in der Ethik) befriedigender als die ultimative Erklärung des Naturalisten. Bedenken wir das A priori-Wesen der Mathematik und die kausale Impotenz mathematischer Objekte, ist es erstaunlich, wie elegant die mathematischen Strukturen von physischen Phänomenen sind. Der Naturalismus kann dies lediglich als glücklichen Zufall verbuchen. Aber es ist überhaupt nicht verwunderlich, dass ein persönlicher Akteur sich aus freien Stücken für A und nicht für Nicht-A entscheidet. Wie der mittelalterliche islamische Philosoph und Mystiker al-Ghasali bemerkte, ist es das Wesen des freien Willens, Gleiches von Gleichem unterscheiden zu können. Nach dem Theismus ist die ultimative Erklärung ein persönlicher Akteur mit einem freien Willen, was eine ganz andere Kategorie ist als die physische Welt, die weder belebt noch ein Akteur ist.

Sie bemerken zu Recht, dass Oppy die mathematische Beschreibung der physischen Welt letztlich für metaphysisch notwendig hält. Sie ist, wie Sie das so schön ausdrücken, „eine nackte Tatsache, und nicht eine nackte Kontingenz.“ Ich finde diese Behauptung absonderlich. Sollen wir im Ernst glauben, dass man die Welt nicht über die Newton’sche Physik beschreiben könnte anstatt über die relativistische Physik? Dagegen ist nach der theistischen Sicht die mathematische Beschreibung der physischen Welt eine Kontingenz, und keine nackte Tatsache.

Was das Argument der Feinabstimmung betrifft, könnte Oppy ähnlich behaupten, dass die Feinabstimmung der Konstanten und Quantitäten der Naturgesetze eine metaphysische Notwendigkeit ist (was seine Position noch extremer machen würde) und dass nach dem Theismus die Feinabstimmung eine nackte Kontingenz ist, die auf Gottes freiem Willen beruht, was einer Wiederholung seines Fehlers gleichkäme. Ich sehe nicht, dass ähnliche Fragen sich in Bezug auf das kalām-kosmologische Argument stellen, aber ich lasse mich gerne belehren.

(Übers.: Dr. F. Lux)

Link to the original article in English: https://www.reasonablefaith.org/writings/question-answer/explaining-the-applicability-of-mathematics/

 

[1] Shelly Kagan, The Limits of Morality (Oxford: Clarendon Press, 1989), S. 13.

[2] Ebd., S. 14.

[3] Ähnliches ließe sich für die theoretische Physik behaupten (David Lewis, Counterfactuals, Oxford: Blackwell, 1973, S. 72-77). Nach dem Mill-Ramsey-Lewis- oder „Best systems“-Modell für die Naturgesetze postuliert man nicht einfach ein Sammelsurium von Naturgesetzen, sondern konstruiert eine Hierarchie, in der explanativ übergeordnete Gesetze die Gesetze der unteren Ebenen erklären. Die Mathematik ist hier die interessantere Analogie, wegen ihrer Elemente der Notwendigkeit und Selbstevidenz.

[4] Penelope Maddy, Defending the Axioms: On the Philosophical Foundations of Set Theory (Oxford: Oxford University Press, 2011), S. 82. Insbesondere weist sie auf die Fähigkeit der Mengenlehre hin, Zahlenlehre und Geometrie/ Analyse zu systematisieren und zu erklären (Penelope Maddy, „Believing the Axioms II“, The Journal of Symbolic Logic 53/3 [1988], S. 762). Somit ist Huemers Behauptung, dass dann, wenn „2<3“ eine Erklärung hat, diese „in einer anderen arithmetischen Tatsache bestehen würde, die ähnlich offensichtlich ist und selber keine Erklärung hat“, nachweislich falsch.

- William Lane Craig