#174 Die Endlichkeit des Raumes
February 15, 2019Sehr geehrter Prof. Craig,
Ihr Argument gegen die Möglichkeit einer aktual unendlichen Zahl vergangener (oder zukünftiger) Ereignisse gefällt mir sehr, und es überzeugt mich. Die Schlussfolgerung, dass das Universum angefangen haben muss, erscheint mir unausweichlich. Aber was ist mit dem Raum? Ich vermute, das Argument lautet wie folgt: Eine aktual unendliche Zahl gleicher Raumsegmente kann nicht existieren. Also ist der Raum begrenzt (ich unterstreiche „aktual“, weil der Raum natürlich potentiell unendlich ist, da er sich indefinit ausdehnt). Doch während der Anfang der Zeit leicht einzuräumen ist, ist die Begrenztheit des Raumes schwer zu erfassen (ebenso wie auch seine Unendlichkeit, wie Kant in seiner ersten Antinomie schrieb[1])... es sei denn, wir setzen so etwas voraus wie einen „ohne-Grenzen-endlichen Raum“ (eine Art Kugel, nehme ich an?) Aber wenn wir das tun, würde ich dazu neigen, bei der Zeit dasselbe zu tun: Warum sollte die Zeit schließlich nicht „ohne-Grenzen-endlich“ sein wie der Raum? Es sieht so aus wie Hawkings Lösung des Problems.
Meine Fragen lauten also:
1. Was ist Ihr Begriff von der Endlichkeit des Raumes? (Wie ist es, „am Rand des Raumes“ zu sein, sich am Rand der letzten Galaxie zu befinden?)
2. Denken Sie, dass die Lösung (wenn es eine ist) für den Raum („ohne-Grenzen-endlich“) auf die Zeit anwendbar ist?
Ich füge diesen Fragen einen einfachen Wunsch hinzu: Bitte entschuldigen Sie mein Englisch!
In Christus,
Frédéric
[1] Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Originalausgabe herausgegeben von Jens Timmermann. Mit einer Bibliographie von Heiner Klemme, Hamburg 1998: Felix Meiner Verlag, S. 530 ff (S. A426/B454). - Immanuel Kant stellt in seinem Antinomienkapitel jeweils eine These und eine Gegenthese gegenüber und versucht zu zeigen, dass sich beide schlüssig beweisen lassen, woraus sich ergebe, dass die Vernunft keine eindeutigen Schlüsse über das Unbedingte ziehen kann. Mit den Antinomien begründet Kant u.a. seine Skepsis gegenüber der Metaphysik. In der erwähnten ersten Antinomie lauten These und Gegenthese wie folgt: „Thesis: Die Welt hat einen Anfang in der Zeit, und ist dem Raum nach auch in Grenzen eingeschlossen.“ (Kant nennt u.a. als Grund: denn sonst müsste man eine unendliche Reihe von Ereignissen vor dem jetzigen Zeitpunkt ansetzen, was aber nicht möglich ist). „Antithesis: Die Welt hat keinen Anfang, und keine Grenzen im Raume, sondern ist, sowohl in Ansehung der Zeit, als des Raums, unendlich.“ (Kant nennt u.a. als Grund: hätte die Welt einen Anfang, so müsste vor dem ersten Ereignis eine ‚leere Zeit‘ existieren, was aber nicht möglich ist, etc.) - Zu einer Diskussion einiger Probleme mit Kants Antinomien, siehe z.B. Lothar Kreimendahl: Die Antinomie der reinen Vernunft, 1. und 2. Abschnitt (A405/B432 – A461/B489), in: Georg Mohr / Marcus Willaschek (Hrsg.): Immanuel Kant. Kritik der reinen Vernunft. KLASSIKER AUSLEGEN, Bd. 17/18)
William Lane Craig kommt in seinem Buch The Kalam Cosmological Argument, Eugene/Or. 1979: Wipf and Stock zu dem Schluss, dass Kants Thesis der ersten Antinomie zuzustimmen ist (S. 189-205), aber dass Kants Argumentation für die Antithesis nicht zu überzeugen vermag (S. 149-151). (Anm. d. Übers.)
Afghanistan
Prof. Craigs Antwort
A
Je suis si content de recevoir une question de quelqu’un en France! Votre Anglais est sans doute meilleur que mon Français! C’est formidable, Frédéric, que vous vous occupez de ces questions si importantes et intéressantes! Que le Seigneur vous bénisse dans vos efforts de rendre témoignage de Lui en France d’une manière intelligente et compatissante! Alors, à vos questions. . . .
[Es freut mich sehr, eine Frage von jemandem aus Frankreich zu bekommen! Ihr Englisch ist zweifellos besser als mein Französisch! Es ist großartig, Frédéric, dass Sie sich mit so wichtigen und interessanten Fragen beschäftigen! Der Herr segne Sie bei Ihren Bemühungen, Ihn auf intelligente und einfühlsame Weise in Frankreich zu bezeugen! Und nun zu Ihren Fragen...]
Ich würde sagen, Ihr Gedankengang in Bezug auf den Raum ist grundsätzlich zutreffend. Der Raum ist an jedem Punkt der Zeit endlich, dehnt sich aber aus und ist somit in Bezug auf die Zukunft potentiell unendlich. Er wird nie aktual unendlich groß werden, sondern sich immer zur Unendlichkeit als Grenze hin ausdehnen.
Diese Antwort setzt voraus, dass der Raum eine geschlossene Geometrie hat wie diejenige der Oberfläche einer Kugel. So wie man nie an den Rand der Oberfläche einer Kugel kommt, wo der Raum endet und man sich fragt, was jenseits liegt, so kann man nie an den Rand des Raumes kommen. Es gibt keinen „Rand des Raumes“, wo sich die letzte Galaxie befindet, genauso wenig wie es auf der Erde einen Rand der Welt gibt, an dem sich die entlegensten Inseln befinden. Natürlich können wir uns einen gekrümmten dreidimensionalen Raum genauso wenig vorstellen wie die Flachländer auf der Oberfläche einer Kugel sich einen gekrümmten zwei-dimensionalen Raum vorstellen könnten. Aber das ist mathematisch denkbar, und man kann sogar rechnerisch nachweisen, dass dies widerspruchsfrei möglich ist, wenn es auch für Geschöpfe wie uns nicht vorstellbar ist.
Man dachte früher einmal, dass eine geschlossene Geometrie für den Raum nicht damit zu vereinbaren ist, dass der Raum in der Zukunft potentiell unendlich ist, weil eine geschlossene Geometrie eine so hohe Dichte erfordern würde, dass das Universum irgendwann wieder kollabieren würde. Doch mit der Entdeckung einer positiven kosmologischen Konstante, die dazu führt, dass die Ausbreitung des Universums sich tatsächlich mit der Zeit beschleunigt, können sogar Universen mit einer hohen Dichte unendlich weitergehen.
Ob Sie nun denken, dass auch die Zeit eine geschlossene Geometrie haben kann, das heißt, im Kreis verläuft, hängt, glaube ich, von Ihrer Theorie der Zeit ab. Wenn Sie die sogenannte tempuslose Auffassung der Zeit vertreten – ich weiß, dass sich dies nicht auf Französisch übersetzen lässt, da „Zeit“ und „Tempus“ beide mit demselben Wort „temps“ übersetzt werden, sodass es ein Oxymoron ist, auf Französisch von einer zeitlosen Zeit zu sprechen (ein interessantes Beispiel dafür, wie Sprache das Philosophieren tatsächlich einschränken kann!) –, das heißt, eine Auffassung, nach der die Zeit essentiell raumähnlich ist und es kein objektives „Jetzt“ gibt, dann gibt es keinen Grund, weshalb die Zeit nicht die Geometrie eines Kreises haben kann.
Doch nach einer tempushaften Auffassung der Zeit, also einer Auffassung der Zeit, nach der temporales Werden real ist und ein objektives „Jetzt“ existiert, scheint es unmöglich zu sein, dass die Zeit kreisförmig ist. Denn wenn dasselbe Ereignis wieder auftreten sollte, würde es ein zweites Mal und dann ein drittes Mal usw. wieder auftreten; die Zeit selbst wäre dann (wie auch sonst im Rahmen einer tempushaften Auffassung der Zeit) nach wie vor linear zu sehen, selbst wenn der Kreislauf der Ereignisse repetitiv wäre. Es wären also nicht buchstäblich dieselben Ereignisse sondern neue, ähnliche Ereignisse. Wenn die Zeit aber buchstäblich kreisförmig sein soll, müssten Sie sagen, dass jedes Ereignis sowohl früher als auch später ist als es selbst, was nach einer tempushaften Theorie der Zeit absurd erscheint. Bei einer Auffassung, nach der temporales Werden objektiv ist, scheint es metaphysisch notwendig zu sein, dass kein Ereignis sich selbst vorausgeht.
Das kalām-kosmologische Argument geht von einer tempushaften Theorie der Zeit und damit von der Linearität der Zeit aus. Zu einer Verteidigung einer solchen Auffassung der Zeit siehe mein Buch Time and Eternity.
(Übers.: M. Wilczek)
Link to the original article in English:
http://www.reasonablefaith.org/finitude-of-space
- William Lane Craig