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#588 Der historische Adam

March 03, 2019
F

Sehr geehrter Prof. Craig,

vielen Dank für Ihre Arbeit im Bereich der Theologie und Philosophie. Ich verfolge Ihre Arbeit nun schon seit mehr als 10 Jahren. Ich bekomme Ihre monatlichen Newsletter, und beim letzten war ich mir, ehrlich gesagt, nicht sicher, was sie sagen möchten. Für mich sieht es so aus: Sie beginnen mit einer Klassifikation des 1. Buches Mose durch Alttestamentler als Ätiologie, wonach es einen historischen Adam nicht unbedingt gegeben haben muss. Dann erklären Sie Paulus‘ Adam-Erwähnung damit, dass Paulus sich hier auf den literarischen Adam bezieht. Dann stellen Sie klar, inwiefern die Naturwissenschaft in der Diskussion um den historischen Adam eine Herausforderung darstellt. Sie enden dann mit der Behauptung, dass die Historizität Adams Implikationen für die Inspiration und Autorität der Schrift hat. Ich erkenne nicht den Zusammenhang zwischen dem Rest des Artikels und Ihrer Behauptung, dass die Autorität und Inspiration der Schrift auf dem Spiel steht. Wozu haben Sie die Klassifizierung des Ersten Buchs Mose durch Alttestamentler als Ätiologie angeführt und darauf verwiesen, dass Paulus sich vielleicht nicht auf Adam als historische Person bezieht? Argumentieren Sie dafür, dass Adam keine historische Person ist und dass 1. Mose mythisch-historisch ist? Diese Klassifizierung würde nämlich Spielraum dafür bieten, Genesis dahingehend zu interpretieren, dass es etwas Historisches anbietet, was Sie dann aber nicht benennen. Finden Sie es plausibler, dass es keinen historischen Adam gab? Das ist letztendlich meine Frage. Ich bin Administrator einer Online-Apologetikgruppe, und dieses Thema hat viel Verwirrung und auch Streitereien verursacht. Wenn Sie diese Frage nicht veröffentlichen, wäre ich sehr dankbar für eine Antwort per E-Mail, die ich dann an die anderen Mitglieder weitergeben kann.

Danke.

Sean
 

United States

Prof. Craigs Antwort


A

Gerade heute Nachmittag habe ich einen Aufsatz des Alttestamentlers Richard Averbeck gelesen, der folgendermaßen anfängt: „Ganz egal, was man über die Anfangskapitel des Ersten Mosebuchs sagt (oder schreibt), man handelt sich sehr viel Ärger mit sehr vielen Leuten ein.“

Das trifft in besonderem Maße auf die Frage des historischen Adams zu. Dieses Thema ist heute extrem umstritten, worüber ich ja auch in unseren letzten beiden Monatsberichten (Juni und Juli 2018) geschrieben habe. Wie ich in diesen Briefen geschrieben habe, habe ich mich jetzt, wo meine Arbeit über das Thema der Sühne fertig ist, der Frage nach der Historizität von Adam und Eva zugewandt. Inmitten all der Debatten ist für mich eines relativ sicher: Die traditionelle Ansicht der Kirche (ganz zu schweigen vom Judentum) ist, dass Adam und Eva die einzigen Vorfahren der gesamten Menschenrasse sind. Die Frage ist, ob das stimmt.

Zu dieser Frage zu forschen, bringt zwei voneinander unabhängige Aufgaben mit sich, die leider zu oft miteinander vermischt werden. Erstens: Herauszufinden, was die Bibel hierüber sagt. Und zweitens: Eine empirisch adäquate Lehre über den Menschen zu formulieren. Die erste Aufgabe ist eine biblisch-theologische, die zweite eine systematisch-theologische. Der biblische Theologe wird darum bemüht sein, die richtige Interpretation des Alten und Neuen Testaments in Bezug auf deren Texte über Adam zu finden, wobei er nicht nur linguistische Studien vornimmt, sondern auch außerbiblisches Material aus dem Alten Nahen Osten und dem Judentum zwischen dem 6. Jahrhundert vor Christus und dem 1. Jahrhundert nach Christus verwendet. Der systematische Theologe wird dann versuchen, eine Lehre über den Menschen zu  konstruieren, die nicht nur biblisch damit konform geht, sondern auch den geprüften Befunden moderner Wissenschaft, wie der Archäologie und der Genetik, entspricht.

Es ist enorm wichtig, dass diese beiden Aufgaben komplett voneinander isoliert durchgeführt werden. Es gibt eine fast unwiderstehliche Tendenz, die Naturwissenschaft unsere biblische Interpretation leiten zu lassen. Dieser Herangehensweise bei der Interpretation der Schrift wird oft „Konkordismus“ genannt: Ausgehend davon, was uns die moderne Wissenschaft über die Entstehung der Welt und der Menschheit sagt, gehen wir an den Bibeltext ran und lesen diesen naturwissenschaftlichen Befund in den Text hinein, oder lesen den Text zumindest so, dass er mit der modernen Wissenschaft konform geht. Die Fehler in dieser Hermeneutik sind eindeutig: (1) Sie interpretiert den Text nicht so, wie ihn sein Autor und die ursprüngliche Zielleserschaft verstanden hätten, sondern baut Bedeutungen hinein, die ihnen fremd gewesen wären. (2) Mit Fortschritt der Wissenschaft wird jede Generation ihren eigenen Stand der Wissenschaft, z. B. vor-relativistische Newton’sche Physik, in den Text hineinlesen.

Ich glaube, dass viele der merkwürdigen Interpretationen der ersten Kapitel des Ersten Mosebuchs (z. B. die sogenannte „funktionale Schöpfung“ oder die Tag-Zeitalter-Theorie) von der Furcht getrieben werden, dass eine unabhängig von der modernen Naturwissenschaft betriebene biblische Theologie offenbaren würde, dass die Junge-Erde-Kreationisten Recht haben. Und so wird die Aufgabe des systematischen Theologen ein hoffnungsloses Unterfangen. Wenn der die Junge Erde unterstützende biblisch-theologische Ansatz korrekt ist, dann sehen wir uns zwei sehr schwierigen Entscheidungen gegenüber: entweder (1) versuchen wir, die naturwissenschaftliche Vertretbarkeit eines 10.000 bis 20.000 Jahre alten Universums zu verteidigen, was, wie ich sagte, hoffnungslos erscheint, oder (2) wir ändern unsere Lehre der biblischen Inspiration und Autorität dahingehend ab, dass die Schrift fehlerhaft sein kann.

Ich denke, Sean, Sie sehen bereits, wie relevant diese Frage in Bezug auf die Inspiration und Autorität der Bibel ist. Zur Veranschaulichung: Ich habe diese Woche den Genesis-Kommentar des ehrenwürdigen Alttestamentlers Gerhard von Rad gelesen. Von Rad scheint sich immer wieder auf die Seite der Verfechter der Jungen Erde zu schlagen, die meinen, dass 1. Mose wissenschaftlich und faktisch interpretiert werden muss, und nicht mystisch und figurativ. Stimmt er also dem Junge-Erde-Kreationismus zu? Natürlich nicht! Er betrachtet Genesis vielmehr als antiquiert und fehlerhaft in Bezug auf wissenschaftliche, historische und geographische Angaben, hält aber an den geistlichen Wahrheiten der Schrift fest.

Wir dürfen nicht zulassen, dass die moderne Naturwissenschaft unsere biblische Theologie dahin führt, dass wir die Junge-Erde-Interpretation umgehen. Doch wir können im Licht der modernen Wissenschaft sehr wohl dazu motiviert werden, unsere Interpretation der biblischen Texte neu zu durchdenken, um zu sehen, ob wir sie richtig verstanden haben. Scot McKnight umgeht den Konkordismus in dieser Erklärung geschickt: „Meine Begegnungen mit vertrauenswürdigen Naturwissenschaftlern haben mich gelehrt, mit anderen Fragen und anderen möglichen Interpretationen zurück zur Bibel zu gehen und zu fragen, was Genesis in der damaligen Welt bedeutete.[1]

Das ist das Projekt, an dem viele von der Creation Project-Konferenz arbeiten, von der ich in unserem Juli-Bericht geschrieben habe. Ich habe für keine Position argumentiert; ich habe unseren Lesern nur von den großen Fragen erzählt, die auf der Konferenz diskutiert wurden, sodass sie mit den Themen vertraut sind, die angegangen werden müssen. Wenn 1. Mose 1-11 beispielsweise mythisch-historisch ist, dann muss vieles von dem, was darin steht, nicht als Fakten verstanden werden, weil man nicht die Absicht hatte, dass es so gelesen werden sollte. Adam könnte eine historische Person sein, aber wir sollten die Berichte und Erzählungen nicht als in jeder Hinsicht faktisch verstehen (z. B. die sprechende Schlange). Paulus scheint Adam als historische Person angesehen zu haben, doch wie ich angedeutet habe, ist selbst hier etwas „Spielraum“ (um ihr Wort zu verwenden) für den biblischen Theologen.

Ich habe erst vor ein paar Monaten angefangen, ernsthaft an der Frage des historischen Adam zu arbeiten und habe daher noch keine festen Meinungen zu diesen schwierigen Fragen. Ist die biblisch-theologische Aufgabe einmal erledigt, bleibt immer noch die Aufgabe der systematischen Theologie. Ich finde es also „nicht plausibler, dass es keinen historischen Adam gab“. Eine solche Schlussfolgerung zu diesem Zeitpunkt wäre völlig voreilig und daher nicht gerechtfertigt.

(Übers.: J. Booker)

https://www.reasonablefaith.org/writings/question-answer/the-historical-adam

 

 

[1] Dennis R. Venema and Scot McKnight, Adam and the Genome: Reading Scripture after Genetic Science (Grand Rapids, Mich.: Brazos Press, 2017), S. 95.

- William Lane Craig