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#691 Das Problem der sinkenden Wahrscheinlichkeiten

October 02, 2020
F

Sehr geehrter Prof. Craig,

mein Name ist Bram Rawlings, und ich bin 16 Jahre alt. Während der Quarantäne habe ich mich mit den Beweisen für die Auferstehung befasst. Richard Swinburne erwähnt in seinem Buch „The Resurrection of God Incarnate“, dass Alvin Plantinga die historische Argumentation für die Auferstehung kritisiert hat, wegen des Problems der „sinkenden Wahrscheinlichkeiten“. Ich bin auch auf einen Artikel von Tim McGrew gestoßen, in welchem dieser Plantinga antwortet. Es ist echt unheimlich, wenn der Gigant der christlichen Philosophie behauptet, dass das historische Argument für die Auferstehung Jesu auf tönernen Füßen steht. Könnten Sie mir hier helfen? Danke!

Bram

United States

Prof. Craigs Antwort


A

Jawohl, es ist unheimlich, Bram! Ich war sehr überrascht, als ich diesen Einwand von Plantinga gegen die historische Apologetik der Tatsache der Auferstehung Jesu das erste Mal hörte.

Was ist das Problem mit den sinkenden Wahrscheinlichkeiten? Plantinga führt aus, dass eine explanative Hypothese wie „Gott hat Jesus von den Toten auferweckt“ mehr ist als eine Einzelhypothese. Man geht bei ihr vielmehr auch davon aus, dass Gott existiert, dass er sich in der Welt offenbaren wollte, dass Jesus von Nazareth tatsächlich gelebt und gewisse radikale Behauptungen über sich gemacht hat und dass Gott ihn von den Toten auferweckte, um diese Behauptungen zu bestätigen. Wir haben es hier mit einer ganzen Reihe von Hypothesen zu tun.

Nehmen wir jetzt an, wir wollen die Wahrscheinlichkeit dieser Hypothesen aufgrund der Evidenz und der Hintergrundinformation berechnen. Als erstes müssen wir die Wahrscheinlichkeit berechnen, dass Gott existiert. Danach müssen wir zusätzlich dazu die Wahrscheinlichkeit berechnen, dass Gott sich in der Welt offenbaren wollte. Als Drittes kommt die Berechnung der Wahrscheinlichkeit, dass Jesus gelebt hat und gewisse radikale Selbstaussagen gemacht hat. Und als krönenden Abschluss müssen wir zusätzlich zu all diesen Hypothesen noch die Wahrscheinlichkeit berechnen, dass Gott Jesus von den Toten auferweckte. Nun, die Wahrscheinlichkeit, dass alle diese Hypothesen wahr sind, ist mathematisch das Ergebnis der Multiplikation aller Einzelwahrscheinlichkeiten. Und jetzt kommt es: Plantinga sagt, dass selbst dann, wenn jede der Hypothesen für sich genommen eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit hat (sagen wir 90 %), die Multiplikation der Wahrscheinlichkeiten dazu führt, dass die Gesamtwahrscheinlichkeit sinkt. Denn: 0,9x0,9x0,9x0,9 = 0,66. Die Gesamtwahrscheinlichkeit wird immer kleiner, bis sie womöglich unter 50 % sinkt. Sie kann sehr klein werden. Woraus folgt, dass die Hypothese der Auferstehung Jesu sich womöglich als gar nicht sehr wahrscheinlich erweisen kann. Plantinga findet also, dass wir unseren Glauben an die Auferstehung Jesu besser nicht auf die historische Evidenz gründen sollten.

Man merkt instinktiv, dass bei diesem Einwand etwas nicht stimmen kann, auch wenn man den Fehler nicht exakt benennen kann. Denn dieser Einwand, träfe er zu, würde nicht nur den Glauben an die Auferstehung Jesu untergraben, sondern den Glauben an so ziemlich alles in der menschlichen Geschichte, das auf einer ganzen Reihe von Ereignissen gründet. Lassen Sie mich ein Beispiel aus der Astronomie nennen. In der Konstellation Cygnus gibt es ein Objekt, das die Astronomen „Cygnus X-1“ nennen. Aufgrund der naturwissenschaftlichen Evidenz sind die meisten Astronomen der Meinung, dass Cygnus sehr wahrscheinlich ein Schwarzes Loch ist. Und jetzt betrachten wir diese Hypothese im Lichte von Plantingas Problem der abnehmenden Wahrscheinlichkeiten. Die Hypothese gründet zunächst einmal auf der Wahrscheinlichkeit des sogenannten kopernikanischen Prinzips, dass wir innerhalb des Universums keinen Sonderstatus haben, d. h. das Prinzip impliziert, dass die Naturgesetze, wie wir sie kennen, die gleichen sind, die auch für die Konstellation Cygnus X-1 gelten. Wenn die Naturgesetze von Cygnus X-1 völlig anders wären als die unseren, könnten wir nichts über Cygnus X-1 aussagen. Zweitens müssen wir die Wahrscheinlichkeit der Allgemeinen Relativitätstheorie bedenken, da die Vorhersage Schwarzer Löcher auf der Basis dieser Schwerkrafttheorie erfolgt. Drittens haben wir die Wahrscheinlichkeit zu bedenken, dass die Röntgeneklipse, die wir bei Cygnus X-1 beobachten, durch einen Begleiter verursacht ist, der um X-1 kreist – das zweite stellare Objekt in diesem binären System, das uns hilft, X-1 zu identifizieren. Viertens müssen wir aufgrund der Umlaufbahn dieses Begleiters annehmen, dass X-1 etwa das Drei- bis Vierfache der Masse unserer Sonne besitzt. Fünftens müssen wir aufgrund der von X-1 ausgesandten pulsierenden Röntgenstrahlung annehmen, dass X-1 einen Durchmesser von ca. 15 Kilometern hat. Und zu guter Letzt haben wir die Wahrscheinlichkeit zu untersuchen, dass es nicht ein anderes Objekt gibt, das diese Phänomene verursachen könnte – z. B. einen Neutronenstern, also ein stellares Objekt, das extrem kompakt, aber kein Schwarzes Loch ist. Wenn jede dieser Hypothesen zu 90 % wahrscheinlich wäre, würde aber die Gesamtwahrscheinlichkeit sehr schnell abnehmen, exakt so, wie Plantinga sich das vorstellt, sodass kein Wissenschaftler je zu der begründeten Annahme kommen könnte, dass Cygnus X-1 wohl ein Schwarzes Loch ist. Aber die meisten Astronomen halten es für ein Schwarzes Loch. Es muss also etwas nicht stimmen an Plantingas Argument, oder dieses würde jede wissenschaftliche und historische Beweisführung ad absurdum führen.

Zum Glück hat, wie Sie richtig erwähnen, Timothy McGrew, ein christlicher Philosoph an der Western Michigan University, klargestellt, wo der Fehler liegt: Plantinga hält die Evidenz konstant, während er die Hypothese immer weiter präzisiert. Doch dieses Vorgehen ist falsch. Wenn jemand sagt, dass angesichts der vorhandenen Evidenz die Wahrscheinlichkeit der Existenz Gottes 90 % beträgt, redet er nur über die Evidenz, die für die Existenz Gottes relevant ist. Keines der theistischen Argumente, die ich aufgrund der Evidenz für den Ursprung des Universums, für die Feinabstimmung des Universums in Richtung intelligentes Leben, für objektive moralische Werte oder für das ontologische Argument verteidige, beruft sich auf Fakten über Jesus oder die Evangelien, sondern vielmehr auf allgemeine Erfahrungstatsachen wie z. B. moralische Fakten, Fakten bezüglich des Ursprungs des Universums usw. Wenn wir in einem weiteren Schritt die Wahrscheinlichkeit untersuchen, dass Gott existiert und dass er sich den Menschen offenbaren wollte, ergänzen wir die bisher vorliegende Evidenz durch zusätzliche Fakten, und wenn wir fragen, wie wahrscheinlich es ist, dass Gott existiert , dass er sich offenbaren wollte und dass Jesus existierte, erweitern wir die Evidenz noch einmal. Solange wir zusammen mit den neuen Hypothesen auch neue Fakten (Evidenz) bekommen, macht es nichts, dass die Hypothesen immer präziser werden. Plantingas Fehler besteht in der Annahme, dass wir, wenn wir die Hypothesen erweitern, die Evidenz nicht zu erweitern brauchen. Das ist einfach nicht richtig. Mit wachsender Evidenz kann die Gesamtwahrscheinlichkeit der Hypothesen sogar steigen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Gott Jesus tatsächlich von den Toten auferweckt hat, kann größer sein als die Wahrscheinlichkeit, dass Gott existiert, weil wir zu den Fakten, die für die Existenz Gottes sprechen, all die Extrafakten hinzugefügt haben, die die erweiterten Hypothesen stützen. Kurz: Plantingas Einwand mit den abnehmenden Wahrscheinlichkeiten entpuppt sich als Denkfehler.

Wir müssen hier fairerweise hinzufügen, dass Plantinga McGrews Analyse zustimmte und klarstellte, dass sein Einwand sich lediglich gegen die Art richtete, wie Swinburne sein Argument ursprünglich formuliert hatte; diese Formulierung, so Plantinga, sei mit dem Problem der sinkenden Wahrscheinlichkeiten behaftet. Swinburne antwortete darauf, dass es seine Intention war, ein Wahrscheinlichkeitsargument im Sinne von McGrew zu liefern.

(Übers.: Dr. F. Lux)

Link to the original article in English: https://www.reasonablefaith.org/writings/question-answer/problem-of-dwindling-probabilities/

- William Lane Craig