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#692 Das „Cosmic Skeptic“-Interview

October 02, 2020
F

Sehr geehrter Prof. Craig,

ich habe mir mit großem Vergnügen Ihre Diskussion mit Alex von Cosmic Skeptic[1] angeschaut. Es war ein Gespräch, das von Respekt, Herzlichkeit und Verzicht auf persönliche Attacken geprägt war. Aber jetzt habe ich ein paar Fragen (eigentlich sogar eine ganze Menge, aber ich beschränke mich auf die wichtigen).

Sie sagten in der Debatte: „Wenn Sie mit dem mereologischen Nihilismus Ernst machen, bedeutet dies, dass wir keine induktiven Beispiele für Dinge haben, die zu existieren beginnen. Die erste Prämisse [des kalām-kosmologischen Arguments], dass alles, was zu existieren beginnt, eine Ursache hat, wäre nach wie vor wahr, aber wir hätten keinerlei Beispiele für Dinge, die zu existieren beginnen, bis auf diese Elementarteilchen.“ Sie versuchen hier, wie mir scheint, einer fundamentalen Dekonstruktion des kalām-Arguments auszuweichen, und das auf zwei Arten.

Erstens gehen Sie dem Vorwurf, dass Sie der Frage ausweichen, durch die platte Wiederholung aus dem Weg, dass es selbst dann, wenn die Existenz des Universums das einzige Beispiel dafür wäre, dass etwas zu existieren beginnt, immer noch wahr wäre, dass das Universum „eine Ursache hat“. Alex hat ganz richtig das Kausalargument von einer Prämisse auf eine Präsupposition reduziert, indem er aufzeigte, dass das Universum ein singuläres Beispiel ohne kausale Bestimmung ist. Das „hat eine Ursache“ trifft nicht mehr zu.

Doch weiter: Zweitens ist es wichtig zu sehen, dass nicht nur das Universum das einzige Beispiel für etwas ist, das zu existieren beginnt, sondern dass sämtliche anderen Beispiele, die Sie anführen, von völlig anderer Art sind als das, was Sie beweisen wollen. Okay, nehmen wir ruhig an, dass zusammengesetzte Dinge in der Realität existieren und, wie Sie argumentieren, zu einem bestimmten Zeitpunkt zu existieren beginnen. Doch die Ursache dafür, dass diese Objekte zu existieren beginnen, gründet auf der vorherigen Existenz von Elementarteilchen. Wir reden hier nicht von einer Erschaffung ex nihilo. Wir können in der Alltagssprache gerne von „erschaffen“ reden, aber das ist eine bloße Besonderheit unserer Sprache. Ich finde, dass die beiden unterschiedlichen Arten von Erschaffung keine Beziehung zueinander haben. Nichts, was aufgrund eines Rearrangements bereits existierender „Bausteine“ zu existieren beginnt, reicht aus, um eine Prämisse zu beweisen, die eine Erschaffung ex nihilo behauptet. Also: Selbst dann, wenn wir Ihren Objektrealismus akzeptieren, haben wir immer noch dieses signifikante Problem mit der Prämisse.

Was Alex nicht erwähnte und wo ich gerne Ihre Stellungnahme hätte, ist der folgende Gedanke: „Ursache“ und „Wirkung“ sind zeitliche Begriffe. Sie können nur innerhalb des uns bekannten Universums wirksam sein. Dass ich einen Ball gegen eine Wand werfen kann (Ursache) und dann beobachten kann, wie er von ihr zurückprallt (Wirkung), ist nur möglich, wenn zwei fundamentale Bedingungen erfüllt sind. Erstens muss, damit eine Wirkung auf eine Ursache folgen kann, Zeit vergehen, und zweitens muss es einen Raum geben, durch den der Ball fliegt. Nehmen wir eines dieser beiden Elemente weg, wird „Ursache/Wirkung“ zu einem leeren Deskriptor, der keinen Nutzen hat. Es ist daher ein Kategorienfehler, zu behaupten, dass unser Verständnis und unsere Anwendung von Ursache und Wirkung auf das Universum übertragen werden kann. Es war ja der Urknall, der Zeit und Raum erschuf, und daraus kann man ableiten, dass Ursache und Wirkung funktional als Teil des Universums erschaffen wurden. Man kann aber nicht behaupten, dass Ursache und Wirkung die Erschaffung des Universums lenken, sonst benutzen wir in einem Zirkelschluss das, was erschaffen wurde, dazu, um den Prozess der Erschaffung zu lenken. Die Erfindung des Schachspiels wurde ja auch nicht durch die Regeln des Spiels determiniert. Aus dem Ganzen folgt ganz offensichtlich, dass das Universum keine Ursache haben kann, weil das Universum die Kausalität überhaupt erst erschuf. Sofern wir nicht aufzeigen können, dass Kausalität ein metaphysisches, die Grenzen des Universums überschreitendes Konstrukt ist, dürfen wir sie nicht so anwenden, wie die Prämisse 1 des kalām-kosmologischen Arguments das tut.

Weitere Fragen: Wie denken Sie über die Quantenmechanik, die ja impliziert, dass es keine effektive Ursache (z.B. virtuelle Partikel, zufälliger Zerfall von Atomen) von Ereignissen gibt, selbst wenn es eine vorher existierende Materie gibt? Und was würden Sie dem von Ihnen sehr geachteten Physiker Alex Vilenkin antworten, wenn er sagt, dass es mathematisch/physikalisch kein Widerspruch ist, wenn ein Universum ohne effektive (freier Wille) oder materielle (Nichts) Ursache entsteht?

Ich möchte auch die zweite Prämisse des Kalām-Arguments hinterfragen: Fing das Universum wirklich an, zu existieren? Viele Physiker sagen ja, dass die Zeit nicht eine Linie ist, die bei „0“ beginnt. Sie verbiegt sich vielmehr zu einer Art Kugel, sodass unsere Vorstellung eines zeitlichen Nullpunktes problematisch ist. Aus diesem Grund glauben Alan Guth, Anthony Aguirre und andere Physiker, dass das Universum ewig ist.

Und schließlich würde ich gerne wissen, warum Sie die Existenz von körper- und zeitlosen Bewusstseinen für möglich halten. Selbst wenn wir konzedieren, dass Bewusstseine etwas anderes als Materie sind, impliziert das ja nicht zwangsläufig, dass sie ohne Materie existieren können. Und selbst wenn sie das könnten, bedeutet dies noch nicht, dass sie zeit- und raumlos sind. – Vielen Dank.

Fieonne

 

[1] Cosmic Skeptic ist eine YouTube-Plattform zur Veröffentlichung philosophischer Ideen und Debatten. (Anm. d. Übers.)

Netherlands

Prof. Craigs Antwort


A

Ich freue mich, dass Ihnen mein Gespräch mit Alex O’Connor gefallen hat, Fieonne. Sie übertreiben nicht, wenn Sie sagen, dass Sie eine Menge Fragen haben! Wenn ich sie alle auf kleinem Raum beantworten soll, werden meine Antworten zwangsläufig kurz ausfallen. Ich versuche, Ihre Fragen zu nummerieren.

1. Vermeidung der kausalen Prämisse durch den mereologischen Nihilismus. Der dialektische Hintergrund dieser Frage ist, dass der Skeptiker auf die zweite Prämisse – Das Universum begann zu existieren – des kalām-kosmologischen Arguments erwidert, dass in Wirklichkeit nichts (auch nicht das Universum) je zu existieren beginnt. Warum? Weil die materiellen Bausteine, aus denen etwas besteht, bereits vor ihm existierten. Die Irrelevanz dieser Behauptung zeigt sich, wenn man eine Explikation von „beginnt zu existieren“ anbietet, die es nicht erfordert, dass etwas ohne eine materielle Ursache zu existieren beginnt:

Für eine beliebige Einheit x und einen beliebigen Zeitpunkt t gilt: x beginnt bei t zu existieren, wenn x zum Zeitpunkt t existiert und wenn t der erste Zeitpunkt ist, an welchem x existiert.

Diese Explikation lässt es völlig offen, ob x eine materielle Ursache hat oder nicht. Im Übrigen ist die ganze Vorstellung, dass etwas, das aus vorher existierenden materiellen Bausteinen zusammengesetzt ist, nie zu existieren beginnt, ehrlich gesagt verrückt, weil sie u.a. bedeuten würde, dass Sie behaupten müssten, dass Sie schon vor Ihrer Zeugung, ja vor aller Ewigkeit existierten.

Der nächste Schachzug in der Dialektik ist ein Verzweiflungsschritt: Um seine Behauptung, dass nichts je zu existieren beginnt, zu verteidigen, sagt der Skeptiker, dass es keine zusammengesetzten materiellen Objekte gibt und dass sie daher auch nicht beginnen können, zu existieren. Wenn sie nicht existieren, fangen sie auch nicht an, zu existieren. Dies ist die Doktrin des mereologischen Nihilismus: Es gibt keine zusammengesetzten Objekte. Hier beginnen wir, wie ich Alex erklärte, den hohen intellektuellen Preis zu sehen, den die Position des Skeptikers fordert. Glauben Sie im Ernst, Fieonne, dass es keine Menschen, keine Möbel und keine Planeten etc. gibt und dass Sie keine Eltern haben? Und es kommt noch schlimmer: Sie müssen verneinen, dass Sie selber existieren, und das ist der reine Irrsinn, denn, wie Descartes ganz richtig sah: Das eine Faktum, das man absolut nicht bezweifeln kann, ist meine eigene Existenz. Die Existenz von zusammengesetzten materiellen Objekten ist unleugbar.

Gut, wenn der mereologische Nihilismus wahr wäre, hätten wir keine klaren Beispiele dafür, dass etwas zu existieren beginnt, zumindest in unserer Alltagserfahrung (es bliebe aber noch die Frage des Beginns der Existenz von Elementarteilchen, die ja nicht zusammengesetzt, sondern einfach sind). Mein aus der Erfahrung gewonnenes induktives Argument, dass Dinge, die zu existieren beginnen, Ursachen haben, wäre also für den mereologischen Nihilisten irrelevant, weil diese Dinge ja eigentlich gar nicht existieren! Aber was soll’s, da der mereologische Nihilismus keine begründete Option ist.

Und weiche ich der Frage aus, wenn ich behaupte, dass die kausale Prämisse des kalām-kosmologischen Arguments selbst dann noch wahr wäre, wenn der mereologische Nihilist mit seiner Behauptung, dass es keine zusammengesetzten Objekte gibt, Recht hätte? Nein, denn das induktive Argument war nur eines meiner drei Argumente für die kausale Prämisse; die ersten beiden sind metaphysische Argumente, die von der Behauptung, dass es keine zusammengesetzten Objekte gibt, nicht berührt werden. Diese Argumente lauten: 1) Etwas kann nicht aus nichts entstehen. Und 2) Wenn etwas aus nichts entstehen könnte, ist es unerklärlich, warum nicht alles und jedes aus dem Nichts entsteht. Selbst unter der Bedingung des mereologischen Nihilismus also ist die kausale Prämisse keine bloße Präsupposition, sondern wird durch Argumente gestützt, denen der Skeptiker sich stellen muss.

2. Die kausale Prämisse und die „Creatio ex nihilo“. Sie sagen weiter, was recht vernünftig ist: „Nehmen wir ruhig an, dass zusammengesetzte Dinge in der Realität existieren und . . . zu einem bestimmten Zeitpunkt zu existieren beginnen.“ Aber dann wenden Sie ein: „Nichts, was aufgrund eines Rearrangements bereits existierender ‚Bausteine‘ zu existieren beginnt, reicht aus, um eine Prämisse zu beweisen, die eine Erschaffung ex nihilo behauptet.“ Das Problem mit diesem Einwand, Fieonne, ist, dass die kausale Prämisse nichts dergleichen behauptet. Wie unsere Explikation von „beginnt zu existieren“ klarstellt, spielt es keine Rolle, ob die Dinge, die zu existieren beginnen, eine materielle Ursache haben oder nicht, ja, wenn die kausale Prämisse behaupten würde, dass alles, was zu existieren beginnt, ex nihilo erschaffen wird, würde ich sie als offensichtlich falsch betrachten.

3. Verursachung und Zeit. Sie sagen: „Man kann . . . nicht behaupten, dass Ursache und Wirkung die Erschaffung des Universums lenken“, denn „‘Ursache‘ und ‚Wirkung‘ sind zeitliche Begriffe.“ Ich erwidere darauf, dass Ihre Behauptung sowohl falsch als auch irrelevant ist. Wie ich in Q&A #678 ausgeführt habe, ist die Behauptung, dass Ursachen ihren Wirkungen notwendigerweise zeitlich vorangehen, ungerechtfertigt, ja plausiblerweise falsch. Und selbst wenn Ursache und Wirkung sich beide in der Zeit vollziehen müssen, kann Gottes Erschaffung des Universums gleichzeitig mit der Entstehung des Universums sein – nämlich im ersten Augenblick der Zeit. Und überhaupt: Das kausale Prinzip ist nicht ein physikalisches Prinzip wie das Boyle’sche Gesetz, das nur innerhalb des Universums gilt, sondern es ist, wie oben erklärt, ein metaphysisches Prinzip, das das ganze Sein bestimmt. Ich würde also auf ihre gegenteilige Behauptung Folgendes erwidern: „Sofern wir nicht aufzeigen können, dass Kausalität ein bloßes physikalisches, an die Grenzen des Universums gebundenes Konstrukt ist, dürfen wir ihre Anwendung nicht so begrenzen, wie der Skeptiker dies tut.“ Ihr Argument mit der Zeitlichkeit ist genau solch ein Versuch, und er scheitert.

4. Verursachung und Quantenmechanik. Impliziert die Quantenmechanik, dass es „keine effektive Ursache . . . von Ereignissen gibt, selbst wenn es eine vorher existierende Materie gibt“? Nein, das impliziert sie nicht. Es gibt mindestens zehn verschiedene, empirisch äquivalente physikalische Interpretationen der Gleichungen der Quantenmechanik, einige davon voll deterministisch. Die Quantenmechanik liefert mithin kein Gegenbeispiel zu der kausalen Prämisse. Die kausale Prämisse ist zudem mit Bedacht so formuliert, dass sie für die Fans indeterministischer Interpretationen der Quantenmechanik (und für die Vertreter des freien Willens) Raum für unverursachte Ereignisse bietet. Denn sie besagt nicht, dass jedes Ereignis eine Ursache hat, sondern dass alles, was zu existieren beginnt, eine Ursache hat. Bei der kausalen Prämisse geht es nicht um Ereignisse, die geschehen, sondern um Dinge, die zu existieren beginnen. Sie ist damit voll kompatibel mit indeterministischen Interpretationen der Quantenmechanik.

5. Sonstiges. Was Vilenkin angeht, verweise ich auf meine Erwiderung an ihn in: „Creation Ex Nihilo: Theology and Science“, in: P. Gould und D. Ray (Hg.), The Story of the Cosmos (Eugene, Ore.: Harvest House, 2019), S. 183-200. Vilenkin geht fälschlicherweise davon aus, dass alles, was nicht von den Naturgesetzen verboten ist, metaphysisch möglich ist – eine Annahme, zu der sich leicht Gegenbeispiele beibringen lassen.

Was die Linearität der Zeit betrifft, so stimmt es nicht, dass „viele Physiker sagen . . ., dass die Zeit nicht eine Linie ist, die bei ‚0‘ beginnt“ und dass „sie sich vielmehr zu einer Art Kugel [verbiegt].“ Man kann mathematische Modelle einer kreisförmigen Zeit konstruieren, aber sie sind grob unphysikalisch. (Oder denken Sie vielleicht an das Hartle-Hawking-Modell, in welchem die Raumzeit in der Nähe ihres Anfangs abgerundet ist wie das Gummiteil eines Federballs? Solch ein Modell hat nach wie vor einen Anfang, an dem nichtsingulären Punkt t = 0.) Was Aguirre, Guth und Carroll angeht, so versuchen sie, wie ich in dem oben erwähnten Artikel erkläre, ein vergangenes ewiges Universum zu postulieren, indem sie an irgendeinem Punkt in der Zeit den Zeitpfeil sich umdrehen lassen, sodass er ab dort in die umgekehrte Richtung weist. Dieses Szenario ist nicht nur gänzlich unphysikalisch, sondern auch vergebliche Mühe, denn, wie der Physiker Aron Wall erklärt, dieses zeitlich umgekehrte Spiegeluniversum ist in keiner Hinsicht unsere Vergangenheit; was wir hier haben, sind vielmehr zwei Universen, die von einem gemeinsamen Anfangspunkt her expandieren.

Was die These betrifft, dass die Ursache des Universums ein körperloses persönliches Bewusstsein ist, nenne ich in meinen Publikationen (z.B. Reasonable Faith, 3rd. rev. ed., Wheaton, Ill.: Crossway 2008) drei Argumente, die diese stützen. Es obliegt jetzt dem Skeptiker, nachzuweisen, dass der Geist auf irgendeine Weise inhärent abhängig von der Materie ist; dies ist ihm bislang nicht gelungen. (Vgl. auch J.P. Morelands Argumente für den Geist-Körper-Dualismus, in: J.P. Moreland und William Lane Craig, Philosophical Foundations for a Christian Worldview, 2nd rev. ed., Downers Grove, Ill.: InterVarsity Press, 2017.) Die Zeit- und Raumlosigkeit des Bewusstseins, das das Universums erschuf, ist eine Implikation dessen, dass es die Ursache von Zeit und Raum ist. Zur Kohärenz des zeitlosen Personseins siehe mein Kapitel in: W.L. Craig, Time and Eternity: Exploring God’s Relationship to Time (Wheaton, Ill.: Crossway, 2001).

Es freut mich, dass Sie sich Gedanken über diese Fragen machen, Fieonne, die ebenso schwierig wie faszinierend sind. Ich bin sicher: Wenn Sie unvoreingenommen weiterlesen und weiterforschen, werden Sie erkennen, wie viel plausibler die theistische Perspektive ist als die Alternativen.

(Übers.: Dr. F. Lux)

Link to the original article in English: https://www.reasonablefaith.org/writings/question-answer/cosmic-skeptic-interview/

- William Lane Craig